Ich war seit vier Jahren nicht in Russland gewesen, und die ersten Menschen, die mir begegneten, von denen ich die Laute der Muttersprache vernahm, waren Gendarmen. Es ist begreiflich, dass ich mich, obwohl Revolutionär, in der Gesellschaft der Gendarmen wohl fühlte. Wer als Uneingeweihter in den Raum hätte blicken können, wo ich am Tische vor dem dampfenden Samowar saß, mir den Tee schmecken ließ und mit den ringsumher stehenden Gendarmen plauderte, der hätte sicher gedacht, dass hier eine gemütliche Unterhaltung zwischen guten Bekannten stattfindet.
„Na, wie ist's denn im Ausland? Sicher nicht so schön wie bei uns, was?“ fragten mich die Burschen. Und ich erzählte, wie es im „Ausland“ sei, dass es dort unvergleichlich besser sei als wie bei uns daheim. Das wollten sie aber nicht glauben; wir stritten hin und her, wobei alle Anwesenden, zehn oder zwölf Mann, eifrig durcheinander schwatzten. Als das Thema erschöpft war, fragte wiederum ich, was es bei uns Neues gebe? wie es gehe? Und nun schilderten sie mir begeistert, wie ganz Russland vor kurzem die Feier der Mündigkeitserklärung des Thronfolgers, des jetzigen Zaren, begangen habe.
Die deutschen Polizisten hatten gegen Bescheinigung mein Gepäck und mich selbst abgeliefert und waren wieder abgezogen, wohl etwas enttäuscht, denn eine Belohnung war ihnen, wenigstens in Granitza, nicht ausbezahlt worden. – Nach einigen Stunden erschien ein Gendarmerieoffizier und befahl einigen der Leute, sich bereitzuhalten, um mich zu eskortieren, da ich mit dem nächsten Zuge weiter sollte.
Ich sah, dass er einem von ihnen das von den deutschen Polizisten übergebene Geld einhändigte. Ich zog also unbemerkt das russische Geld, das ich versteckt hatte, hervor und übergab es dem Offizier, da ich fürchtete, man könnte es bei einer sorgfältigeren Visitation finden. – Er war hocherstaunt und fragte, ob ich denn in Deutschland nicht visitiert worden sei? Dann befahl er nochmals, meine Kleider zu durchsuchen, was denn auch mit aller Gründlichkeit geschah. Aber das übrige deutsche Geld und die Schere fand man trotzdem nicht.
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Über Warschau nach Petersburg
Über Warschau nach Petersburg
Drei Gendarmen begleiteten mich auf der Reise nach Petersburg. In Warschau, wo wir in der Nacht ankamen, erwartete mich ein Oberst der Gendarmerie. Wie die meisten Gendarmerieoffiziere war er sehr höflich und gesprächig.
„Sie sind an dem Tschigiriner Prozesse beteiligt?“ fragte er, und als ich das bejahte, fügte er zum Troste hinzu:
„Nun, das ist ja schon so lange her. Das war doch zur Zeit des polnischen Aufstandes? – Da kommt Ihnen das Manifest zugute, man wird Ihnen nicht viel anhaben.“
Zur Zeit des polnischen Aufstandes war ich noch nicht einmal acht Jahre alt! Das illustriert, wie wenig manche der Gendarmerieoffiziere über die politischen Prozesse Bescheid wissen, die doch ihr eigentliches Metier sind.
Die freundliche Teilnahme hinderte ihn natürlich nicht, meinen Wächtern die strengsten Verhaltungsbefehle zu geben, was ich im Wagen sitzend belauschen konnte.
„Habt mir gut Acht auf ihn! – Das Fenster darf nicht geöffnet werden; er darf den Wagen nicht verlassen. – Dass ihr nicht unterwegs schläft!“ flüsterte er.
Die Gendarmen aber ließen sich dadurch nicht stören, behandelten mich nach wie vor mit aller Zuvorkommenheit und zeigten nicht die geringste Furcht, dass ich ihnen davonlaufen könnte.
Als wir in Petersburg ankamen, erwartete uns ein Gendarmeriekapitän und führte mich in einer geschlossenen Droschke direkt nach der Peter-Pauls-Feste.
Peter-Pauls-Feste – Foto: Andrew Shiva
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VI. Die Peter-Pauls-Feste
VI. Die Peter-Pauls-Feste
Ein sonderbares Gefühl beschlich mich, als ich sah, dass man mich nach diesem Kerker führte, den die Regierung der Zaren speziell für die Staatsverbrecher eingerichtet hat, den man von alters her in Russland nur mit Schaudern nennt. Düstere Gedanken waren es, mit denen ich ihm nahte, aber auch die Neugierde stellte sich ein. Ich wusste wohl, dass in dieser Feste ein grausiges Regime herrscht, aber ich war eigentlich neugierig, es persönlich kennen zu lernen. Die Wirklichkeit entsprach in der Tat meinen Vorstellungen.
Kaum hatte man mich in irgendeine Kammer gebracht, als der Verwalter des Kerkers, Gendarmerieoberst Lesnik, mir befahl, mich bis auf die Haut zu entkleiden. Ein paar Gendarmen untersuchten mich aufs sorgfältigste und reichten mir dann, statt meine Sachen, Gefängniswäsche und einen gestreiften baumwollenen Kittel, wie sie in den Krankenhäusern üblich sind, und ein Paar Pantoffeln. Meine eigenen Sachen dagegen wurden fortgeschafft. Dann wurde ich in eine Zelle im Erdgeschoss eingeschlossen.
Alles ging hier lautlos vor sich, ohne jedes Geräusch, ohne dass jemand ein Wort sprach. Es war, als ob hier nicht Menschen jahrelang lebten, sondern als ob man in einem Totenhause wäre. Einzig die Glockenschläge der Uhr unterbrachen die Stille, wobei jedes Mal die Nationalhymne erklang: „Ehre, Ehre sei dir, russischer Zar.“
Die Zelle war geräumig, aber finster, da das Fenster ganz oben an der Decke sich befand; es war kalt hier, trotzdem es im Mai war; die Sonne drang hier niemals herein, und die Wände waren feucht. Außer der eisernen Bettstelle mit Strohsack, Kissen und dünner Baumwolldecke war ein gleichfalls eiserner Tisch und ein Sitzbrett vorhanden, beides an die Wand geschmiedet, und der übliche, einen Gestank ausströmende „Kübel“. Schon gegen 3 Uhr nachmittags herrschte hier Dunkelheit, obgleich in diese Zeit in Petersburg die bekannten „Hellen Nächte“ fallen, wo es überhaupt nicht dunkel wird. Vor allem aber machte sich die Kälte entsetzlich fühlbar, die wohl der Lage der Zelle zuzuschreiben war, besonders aber der unzureichenden Kleidung. Um mich zu erwärmen, marschierte ich bis zur vollsten Erschöpfung hin und her von einem Winkel in den anderen; kaum aber setzte ich mich auf einige Minuten nieder, so fror ich am ganzen Körper. Auch im Bette fühlte ich dieselbe durchdringende Kälte, weil die Decke gar zu luftig war. – Die Kost bestand aus einem Laib Kommissbrot von ungefähr zwei Pfund und dem Mittagessen aus zwei Gerichten, die nicht schlecht waren, doch war es zu wenig, und dazu waren die Speisen immer kalt, weil sie weit hergebracht wurden. Als Untersuchungsgefangener hätte ich mir aus eigenen Mitteln eine bessere Verpflegung verschaffen können, aber lange Zeit war es nicht möglich, weil die Gendarmen, die mich hergebracht, mein Gepäck und das Geld dem Gendarmerieoffizier übergeben hatten, und dieser hatte es an das Polizeidepartement abgeliefert. Am schlimmsten jedoch war, dass auch meine Brille auf diese Weise fehlte und ich somit nicht lesen konnte, was ebenfalls den Untersuchungsgefangenen gestattet wird. Es wurden mir daher die Tage und auch die Nächte unendlich lang. Ich versuchte alles Mögliche, um mir Beschäftigung zu verschaffen; ich versuchte Rechenexempel zu lösen, natürlich „Kopfrechnen“, weil Schreibzeug nicht bewilligt wurde, ich erzählte mir selber Geschichten und frischte alle Erlebnisse aus. Schließlich verfiel ich darauf, eine Zeitung „herauszugeben“. Wenn ich morgens aufgestanden und mich gewaschen hatte, aß ich ein Stück Brot, und dann „las ich meine Zeitung“. Erst kam natürlich ein „Leitartikel“ über eine höchst aktuelle Frage, dann die „Rundschau“, „Stadtnachrichten“, das „Feuilleton“ usw. Aber nach einigen Tagen war natürlich der Stoff erschöpft, und die „Spalten meiner Zeitung“ wurden recht uninteressant, dabei konnte dieses „Lesen“ nicht den ganzen Tag ausfüllen; übrigens war ich auch bei Nacht oft wach, weil die Kälte mich nicht einschlafen ließ; so lief ich denn auf und ab, auf und ab wie ein Tier in seinem Käfig.
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