Der Trodon durchquerte die Grube und trug das gelähmte Opfer zu seinem Platz im tödlichen Kreis. Dabei trat das Biest mit einem Fuß in die offene Schlinge. Von Horst schickte eine laufende Welle des Lederriemens über den Boden, welche die Schlinge am Bein der Kreatur über den Knöchel anhob, dann zog er mit einem schnellen Ruck am Lederband. Die Schlinge zog sich ein wenig zu. War das genug? Würde sie halten? Wie er erwartet hatte, schenkte die Kreatur dem Riemen keine Beachtung, schien sie nicht einmal zu spüren. Dessen war sich von Horst ganz sicher. Das Nervensystem der Kreatur war wohl so wenig ausgeprägt, dass es wohl nur einen schweren Schlag gegen das Bein gespürt hätte.
Nachdem es das Opfer abgesetzt hatte, drehte sich das Reptil zur Mitte der Grube, sprang in die Luft und flatterte in die Höhe. Von Horst hielt den Atem an. Würde sich die Schlinge lösen? Gott bewahre. Sie hielt. Von Horst sprang auf und rannte auf die Mitte der Grube zu, seine Pistole geladen und entsichert in der Hand. Als der Trodon durch den Kraterschlund aufstieg und über die Kante flog, gab der Mann drei Schüsse in schneller Folge ab.
Er brauchte die entsetzlichen Schreie der verwundeten Kreatur nicht, um zu wissen, dass er gut gezielt hatte. Denn er sah, wie das große Reptil durch die Luft trudelte und jenseits des Kraterrandes stürzte. Von Horst griff nach dem Ende des Riemens, hängte mit seinem Gewicht daran und wartete.
Noch bestand die Gefahr, dass der Körper der Kreatur den Steilhang des Kraters ungebremst hinunterpurzeln konnte und ihm das Lederband aus den Händen reissen würde. Also wickelte er das Band so schnell er konnte um die Hüfte und band es fest. Eher würde er sterben, als das Band und damit seinen einzigen Ausweg aus dieser Grube, zu verlieren. Einen Moment lang wickelte sich der Gurt schnell von der Spule ab – dann hörte sie auf. Entweder war der Körper des Trodon zur Ruhe gekommen oder die Schlinge war vom Hinterbein gerutscht. Was nun?
Von Horst zog ängstlich am Riemen. Bald straffte er sich und da wusste er, dass er noch an der Kreatur befestigt war. Ein vager Zweifel überkam ihn, ob der Trodon wirklich tot war oder nicht. Er wusste, wie hartnäckig solche Kreaturen sein konnten. Und wenn sie nun nicht tot war? Was für schreckliche Möglichkeiten ein solches Ereignis mit sich bringen könnte!
Der Mann zerrte noch einmal am Lederriemen. Er gab nicht nach. Dann schwang er mit seinem ganzen Gewicht an ihm. Es blieb, wie es war. Immer noch am losen Ende festhaltend, überquerte er die Grube zu Dangar, der ihn mit großen, erstaunten Augen anstarrte.
»Du hättest ein Sarier werden sollen«, sagte Dangar voller Bewunderung.
Von Horst lächelte. »Ach hör' schon auf«, sagte er. »Jetzt zu dir.« Er bückte sich und hob den Pellucidarer vom Boden auf und trug ihn in die Mitte der Grube, direkt unter die Krateröffnung. Dann band er das lose Ende des Riemens um seinen Körper unter den Armen fest.
»Was hast du vor?«, fragte Dangar.
»Ich bin gerade dabei, die Hohlwelt für dünnhäutige Tiere ein wenig sicherer zu machen«, antwortete von Horst.
Er ging zur Seite der Grube und begann, die Eier mit dem Griff seiner Pistole zu zerschlagen. Zwei der Eier näherten sich dem Ende der Brutzeit und wackelten bereits. In ihrem Innern regten sich bereits zwei recht lebendige Jungtiere. Von Horst tötete sie beide und kehrte dann zu Dangar zurück.
»Ich hasse es, diese anderen armen Teufel hier zu lassen«, sagte er und gestikulierte in Richtung der unglücklichen Opfer, »aber es gibt keinen anderen Weg. Ich kann sie nicht alle rausholen.«
»Du kannst noch froh sein, wenn du rauskommst«, entgegnete Dangar.
Von Horst grinste. »Wir werden beide Glück haben«, antwortete er, »aber heute ist unser Glückstag.« In der Sprache der inneren Welt, in der es weder Tag noch Nacht gibt, gab es folglich kein Wort für Tag. Also ersetzte von Horst es durch ein fremdsprachiges Wort der äußeren Welt. »Hab Geduld, dann bist auch du bald draußen.«
Er griff nach dem Lederriemen und zog sich Hand für Hand hoch. Dangar lag auf dem Rücken und beobachtete ihn mit bewunderndem Blick. Es war ein langer, gefährlicher Aufstieg, aber schließlich erreichte von Horst die Mündung des Kraters. Als er sich über den Kraterrand rollte und den Hang hinunterblickte, sah er den Kadaver des Trodon auf einem kleinen Felsvorsprung unter ihm liegen. Die Kreatur war ganz offensichtlich tot und das war auch schon alles, was von Horst an dem Biest wissen wollte. Er wandte sich sofort seiner nächsten Aufgabe zu, nämlich Dangar aus dem Krater zu befreien.
Von Horst war ein kräftiger Mann, stiess nun aber schnell an die Grenzen seiner Ausdauer. Vermutlich lag das an der langen Lähmung, die sein Körper durchmachen musste. Hinzu kam der unsichere Stand, den der steile Abhang des Kraters bot. Dennoch verlor er keinen Augenblick die Hoffnung auf den Erfolg; und obwohl es eine langwierige Arbeit war, wurde er schließlich dafür belohnt, als er die gelähmte Gestalt des Pellucidarers auf dem Gipfel des Hügels neben sich liegen sah.
Zu gerne hätte er sich jetzt kurz ausgeruht, aber seine Erfahrung mit der Welt von Pellucidar hatte ihn gelehrt, dass ein exponierter Ort wie dieser Hügel kein guter Ort war, um zu verweilen. Er musste, mit Dangar im Schlepptau, den Hang hinabgehen und zwischen den Bäumen und einem Wasserlauf, die er von hier aus sehen konnte, nach einem Versteck suchen.
Der Hang war sehr steil, aber zum Glück war er durch gelegentliche Vorsprünge unterbrochen, die zumindest ein Bisschen Halt boten. Da es keine andere Möglichkeit zum Abstieg gab, hob von Horst Dangar über eine seiner breiten Schultern und begann den gefährlichen Weg nach unten. Schlitternd und stolpernd bahnte er sich langsam den Weg den steilen Abhang hinunter, ständig auf der Hut nach möglichen Gefahren. Gelegentlich stürzte er, schaffte es aber immer, sich zu fangen, bevor er in die Tiefe stürzte.
Er war ziemlich erschöpft, als er schließlich in den Schatten einer Baumgruppe taumelte, die neben dem kleinen Bach wuchs, den er vom Gipfel des Hügels aus gesehen hatte. Er legte Dangar auf einer Grasfläche ab und löschte seinen Durst mit dem klaren Wasser des Baches. Es war das zweite Mal, dass er getrunken hatte, seit er den Landeplatz des Luftschiffs O-220 verlassen hatte. Wie viel Zeit inzwischen verstrichen war, konnte er aber nicht einmal erraten. Es könnten Tage gewesen sein, vielleicht Wochen oder sogar Monate. Doch für den grössten Teil dieser Zeit hatte das eigentümliche Gift des Trodon ihn nicht nur gelähmt, sondern auch die Feuchtigkeit in seinem Körper bewahrt und ihn so immer frisch und fit für die ungeborenen Kükens gehalten, von denen er verschlungen werden sollte.
Erfrischt und gestärkt stand er auf und sah sich um. Er musste einen Ort finden, an dem er ein mehr oder weniger dauerhaftes Lager errichten konnte, denn er konnte Dangar unmöglich weitertragen. Er fühlte sich ziemlich hilflos, praktisch allein in dieser unbekannten Welt. In welche Richtung sollte er bloß gehen? Gab es überhaupt den Funken einer Hoffnung die O-220 und damit seine Freunde je wieder zu finden? Besonders in einem Land, in dem es keine Himmelsrichtungen gab? Selbst wenn es sie geben würde, von Horst hatte keine Ahnung, wohin er gehen musste, weil er die Orientierung seit der Entführung durch den Trodon komplett verloren hatte.
Sobald die Wirkung des Giftes nachgelassen hatte und Dangar von den Fesseln der Lähmung befreit war, würde er nicht nur einen aktiven Freund und Gefährten haben, sondern auch einen, der ihn in ein Land führen konnte, in dem er sich eines freundlichen Empfangs sicher sein konnte und eine Gelegenheit, sich einen Platz in dieser wilden Welt zu schaffen, in der er, wie er zu glauben geneigt war, den Rest seines Lebens verbringen musste. Es war bei weitem nicht nur diese Überlegung, die ihn veranlasste, bei dem Volk von Sari zu bleiben, sondern vielmehr ein Gefühl der Loyalität und Freundschaft.
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