Chip war durch diese paar Sätze, die über ihre Ängste, den Alltag und die Leute um sie her viel aussagten, betroffen. Er sah die Verlegenheit von Emily, aber ging auf das Kind ein. „Da gibt es nichts zu schimpfen. Ich denke so wie du darüber.“ „Viele schimpfen und sagen gemeine Dinge. Dann muss Mami weinen. Das will ich nicht und ich bin böse auf diese Leute.“ „Ach Moni, wer das tut, weiß nicht viel und versteht nichts vom Leben.“ Sie nickte. Er redete nicht so dumm mit ihr wie manche meinten, es mit einem Kind tun zu müssen. Er sah Emily an, die auf ihre Schuhe starrte, ihn nicht mehr ansehen konnte. Es machte sie verlegen, aber sie ließ das Gespräch zu.
„Mich müsste man viel eher wegsperren als deine Mama.“ Er lächelte, weil sie ihn erschrocken ansah und wandte sich an Emily. „Du erträgst zu viele Menschen um dich her nicht?“ „Ja, und mehr“, kam es nur leise „Und damit zeigst du doch viel Mut und Kraft. Du gehst in einen Laden, trotz deiner Ängste.“ „Du hast ja gesehen wie mein Versuch endete.“ Ihre Stimme klang wie die eines im Netz gefangenen Vogels.
„Eine Ausnahmesituation, weil die Kleine auf einmal weg war. Das hat dich einen Moment überfordert. Das würde doch jeder Mama so gehen.“ Sie sah auf den Boden. „Ja … Ich … muss doch. Für Moni. Für sie tu ich alles, selbst wenn es manchmal sehr schwer fällt oder kaum geht. Sie ist alles, was ich habe. Sie muss Kind sein können.“
In dieser Antwort war so viel Liebe und Verzweiflung enthalten, dass es ihn berührte. Da sie einander nicht kannten, ging er jedoch nicht weiter auf ihre Probleme ein. Er wollte nicht aufdringlich erscheinen. Er mochte so etwas auch nicht. Aber er sah, wie müde sie war. Es hatte sie sehr angestrengt. „Soll ich euch nach Hause begleiten?“ Sie zögerte nur kurz. „Das würdest du tun?“ „Ja. Wenn du mir genug vertraust und du es noch einen Moment hier aushalten kannst. Ich beende schnell meine Einkäufe, lade sie in meinen Wagen und gehe dann mit euch.“ „Wir warten.“
Chip eilte hinein. Er suchte seinen Wagen, schnappte sich die Leisten und die Rolle Tapeten, die noch gefehlt hatten, ging rüber zu den Spielwaren und packte die Prinzessen-Barbie mit in den Wagen. Die hatte Moni so gefallen. Er ließ sie an der Kasse in Geschenkpapier einpacken. Er hatte nicht wiederstehen können und hoffte sehr, dass es nicht falsch aufgefasst wurde. Er gab Emily das Päckchen und flüsterte ihr zu: „Eine kleine Freude für die Kleine. Ganz spontan und ohne Hintergedanken.“
Er hatte soweit alles erledigt. Sein Fahrzeug konnte da noch einen Moment stehen bleiben. Er wurde aufmerksam und mit Staunen im Blick betrachtet. „Danke. Du bist schwer einzuschätzen Chip.“ Noch einmal betrachtete sie den Mann von oben bis unten und schien tatsächlich nicht so recht zu wissen, was sie da für einen vor sich hatte. Als sie losgingen, beschäftigte ihn das Gesagte weiter. „Warum? Warum siehst du das so?“
„Du bist ein schöner Mann. Die meisten, die wie du aussehen, die so selbstbewusst sind, haben eher wenig Einfühlungsvermögen und keine Geduld mit anstrengenden Menschen.“ Er blieb stehen. „Du gibst etwas auf Klischees?“ „Tun wir das nicht alle mehr oder weniger?“ „Ich eher weniger. Und ich hasse es eingeordnet zu werden.“ „Du wirst es trotzdem.“
Sie wurde auf einmal rot und senkte den Blick. „Chip, ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Ist schon ok. Und … ich bin selbst anstrengend und froh, wenn jemand nicht gleich schreiend die Flucht ergreift.“ Dazu grinste er schelmisch. „Und wie ich aussehe … ja, das weiß ich.“ Er lachte.
Durch dieses Lachen entspannte sie sich. Es war nicht weit bis zu ihr hin, aber selbst diese kurze Strecke kostete sie ihre letzte Kraft. Die Ängste beeinträchtigten ihr Leben sehr. Wodurch wurde das ausgelöst oder was hatte es bei ihr ausgelöst? Er wollte sich schlau machen. Er wusste, dass er sie nicht fragen durfte. Es ging ihn nichts an.
„Alleine hätte ich es heute nicht geschafft.“ Sie wandte sich etwas ab, damit er die Tränen in ihren Augen nicht sah. Doch er wusste es und wagte nun doch eine heikle Frage. „Hast du professionelle Hilfe?“ „Ich bin nicht verrückt“, kam es sogleich heftig von ihr. „Nein, das sagte ich nicht und das denke ich nicht. Ich dachte, ich hatte das zuvor schon klar ausgesagt.“
Sie atmete schnell, doch sie versuchte sich zu beruhigen. Das nahm etwas Zeit in Anspruch. „Entschuldige Chip, ich wollte dich nicht angreifen. Es ist nur … automatische Reaktion. Ich muss mir zu oft anhören – wie Moni es schon andeutete – dass ich nicht richtig im Kopf bin, dass ich in die Klapse gehöre, dass jemand wie ich nicht auch noch ein Kind haben sollte und überhaupt völlig überflüssig auf der Welt sei.“ „Wer redet solchen Scheiß?“ Er regte sich auf. „Liebe Mitmenschen und Familienmitglieder.“
„Ignoranten! Viele verstehen nichts und wollen sich gar nicht damit auseinander setzen. Sie blöken Parolen vor sich hin oder Sätze, die sie irgendwo aufschnappen. Gelaber! An denen musst du dich nicht messen. Zugegeben, ich weiß wenig darüber. Aber ich werde mich auf meinen Hintern setzen und es studieren, weil ich dem begegnet bin, weil ich dir begegnet bin. Wer nur ein bisschen nachdenkt, wer seine Gehirnzellen nicht verkümmern lässt, sagt nicht solchen Schund ins Blaue hinaus. Das Leben ist nicht schwarz oder weiß, es ist nuanciert. Menschen haben enorm viele Seiten und Vorgänge. Das kann nicht auf so einfache Nenner reduziert werden.“
Sie staunte und wandte ein. „Vielleicht Angst vor Unbekanntem und dann Rundumschlag?“ „Das auch ja. Aber die meisten interessieren sich leider für nichts Wesentliches. Gräm dich nicht. Eigentlich wollte ich nur das mit meinem Vortrag ausdrücken.“ „Ich sehe ein paar deiner Seiten.“
Er lächelte. „Oh da sind Viele. Aber … wir kennen uns noch kaum. Ich weiß. Trotzdem … deine Kleine zum Beispiel. Sie ist aufgeweckt, schlau, dein Kind, lacht, weint, sieht die Welt aufmerksam. Sie zeigt viel wie du bist. An ihr sehe ich am deutlichsten, was für ein Blödsinn solche Aussagen sind.“ „Vielleicht bist du da der einzige.“
„Das kann nicht sein. Ich sehe an dir nichts Verrücktes, an mir eine Menge. Ich sehe nur Unsicherheit und Angst. Das wird seine Gründe haben. Und … professionelle Hilfe ist Betreuung und Unterstützung bei Dingen, die man alleine noch nicht ganz meistern kann. Das kenne ich. Und das ist nichts Beschämendes. Es ist Stärke, Hilfe anzunehmen, wenn es nötig ist.“ „Ja ich habe eine solche Hilfe. Aber ich möchte mich nicht zu sehr anlehnen, mich nicht zu sehr aufstützen.“ Er lächelte wieder. „Das ist auch richtig so.“
Chip sah ihre Unsicherheiten, aber er sah auch ihre Stärke; den Willen das Leben trotzdem anzupacken. Vermutlich allerdings vor allem für das Kind und nicht in erster Linie für sich selbst. Nun gut, eine solche Beurteilung stand ihm nicht zu und möglicherweise lag er falsch. Schließlich war er kein Seelenklempner, auch wenn ihm diese Dinge nicht unbekannt waren. Er war in der Lage, so etwas einzuschätzen.
Er gestand anderen durchaus zu, dass sie es nicht konnten. Das nahm er niemandem übel. Nur, wer es nicht konnte, blieb eher still im Hintergrund und maßte sich nicht an, die Weisheit für sich gepachtet zu haben. Wer es hingegen nicht wollte und sich als Nabel der Welt ansah, redete solchen verletzenden Unsinn. Für diese junge Frau war das Leben alles andere als einfach. Sie konnte daran zerbrechen oder besonders stark werden und es hing nicht nur von ihr alleine ab, wenn auch zum größten Teil. Es half oder schadete jedoch wie die Umwelt reagierte und wie sie von ihren Bekannten und den Behörden eingestuft wurde.
In den Behörden saßen Menschen. Die einen waren engagiert und kompetent, andere waren laute Ignoranten. Je nachdem auf wen man stieß, je nachdem wie die Chemie stimmte, sah oft das Resultat der Zusammenarbeit aus. Echte Hilfe und Unterstützung oder Steine im Weg, Felsbrocken vor der Nase oder Schikanen. Das reinste Roulette bei allen Bemühungen, die richtigen Leute für diese Aufgabe zu rekrutieren. Menschen eben - mit Vorurteilen oder Offenheit, mit Sturheit oder mit Verständnis.
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