Über Aidans sonst ernst wirkenden Gesicht huscht ein Lächeln.
„Ich vergaß“, erwidert sie „dann bleibt mehr für mich“, und sie kann das Grinsen nicht unterdrücken.
Wenig später steht er abermals neben ihr und reicht einen Teller mit Stücken einer frisch geschnittenen Melone ihr entgegen.
„Du solltest bei der Hitze viel Wasser zu dir nehmen“, bestimmt er.
Kelly ist überrascht und nimmt dankend an. Die frische Melone schmeckt köstlich.
Die Ess- und Trinkgewohnheiten ihrer Mitbewohner sind sehr unterschiedlich. Ihre Wunschvorstellung einer WG mit täglich gemeinsamen Mahlzeiten wurde nur am ersten Tag erfüllt. Meistens isst die Studentin alleine am langen Esstisch, der sich zwischen Küche und Wohnzimmer befindet. Durch den Schichtdienst von Aidan und aufgrund der zahlreichen Sportaktivitäten von Josh ist dies Alltag.
Außerdem isst und trinkt Aidan nichts oder zumindest nicht in Anwesenheit anderer Personen. Ob er magersüchtig ist? Das würde jedoch nicht zu seiner Figur passen, da er nicht hager oder dürr ist, sondern eher muskulös.
Josh hingegen isst für zwei, wobei er nicht übergewichtig ist. Sein Körper ist athletisch und durch das tägliche Joggen trainiert.
Das bisher einzige gemeinsame Abendessen war an dem Abend als Kelly einzog.
Sie hatte ihre wenigen Habseligkeiten aus dem youth hostel ins Penthouse gebracht. Das Einräumen in die vorhandenen Schränke war schnell geschehen.
Anschießend half sie Josh bei der Vorbereitung des „Willkommen-Essens“ wie er es nannte.
„Ich koche gerne“, erklärte er und goss die Nudeln in ein Sieb ab.
Josh zauberte ein 3-Gänge-Menue, das Kelly nicht so schnell vergessen würde.
Einmal, weil es sehr köstlich war. Dann, weil sie vergessen hatte ihren Mitbewohnern mitzuteilen, dass sie Vegetarierin sei.
Daraufhin musste Josh die zehn Würstchen und fünf Holzfäller-Steaks alleine vertilgen, den Einwand, er könne sie doch morgen noch essen oder gar einfrieren, ließ er nicht gelten. Aidan saß währenddessen gelangweilt am Tisch und kostete weder das Gemüse noch die Mango-Mascarpone-Creme, die es als Nachspeise gab. Auf ihre Frage, ob er denn keinen Hunger hätte, antwortete er: „Ich habe schon in der Krankenhauskantine gegessen.“
„Das tut er immer, wenn ich koche“, schmatzte Josh mit vollem Mund.
Um von der Essensfrage abzulenken, wie Kelly vermutete, fragte Aidan sie interessiert:„Was studierst du eigentlich?“
Kelly spießte ein Stück Tomate auf die Gabel: “Kunstgeschichte. Ich belege des weiteren Kurse in Malerei und Fotografie.“
„Wie wirst du die Miete bezahlen?“ erkundigte sich Aidan.
„Ich jobbe im MoMa“.
Joshs Gesichtsausdruck war ein Fragezeichen.
Kopfschüttelnd klärte der andere auf: „Das Museum of Modern Art.“
„Ach so.“
„Und ihr? Studiert ihr auch?“
„Nein, wir studieren nicht. Er ist Mathematik- und Sportlehrer an einer Highschool“, Aidan zeigte auf seinen kauenden Mitbewohner.
Josh schluckte und sagte: „Und Aidan ist ein Herzensbrecher“.
Jetzt war Kellys Gesicht ein Fragezeichen.
„Ich bin Kardiologe im St. Andrews Krankenhaus“.
Nach dem Abendessen machten die drei Bewohner den Abwasch. Es war fast Mitternacht, als die neue Mitbewohnerin gähnend das Licht in der Küche löschte. Der Arzt öffnete die Wohnungstür und war gerade im Begriff, hinaus zu gehen.
„Du gehst um diese Zeit noch weg?“ fragte Kelly erstaunt.
Aidan erwiderte: „Ich habe noch eine Verabredung. Gute Nacht Kelly und willkommen in unserer Wohngemeinschaft“, und er zog die Tür lautlos hinter sich zu.
Ihr fragender Blick zu ihrem anderen Mitbewohner wurde nur mit einem Schulterzucken beantwortet.
Kellys Glas Eistee ist leer.
Sie steht auf und will sich in der Küche nachschenken.
Die Karaffe ist nicht mehr im Kühlschrank, sondern am Mund ihres Mitbewohners Josh. Der letzte braune Schluck Eistee verschwindet soeben darin. Ein Rülpsen folgt.
„Ich hoffe, der Eistee hat geschmeckt“, ruft sie von der Küche zum Sofa hinüber, auf dem er liegt.
„Ja, danke.“
Vor Josh ist im Kühlschrank nichts sicher.
Er blättert in einem Buch über Wölfe in Nordamerika. Josh liebt Fauna und Flora, denn er liest ständig Pflanzen- und Tierbestimmungsbücher, obgleich er nicht Biologielehrer ist.
„Hast du gewusst, dass Wölfe meist direkt durch ihren Geruch ihre Beute finden?
Und seltener durch die Verfolgung frischer Spuren? Sie versuchen sich den Beutetieren dann unbemerkt bis auf geringe Distanz zu nähern.“
„Nein, wusste ich nicht“, antwortet Kelly beiläufig.
Ihrem Zimmer gegenüber befindet sich das so genannte Fernsehzimmer. Die Tür steht offen, der breite Flachbildschirm ist schwarz.
Wo ist Aidan? wundert sich Kelly. Sie kann ihn hier unten nirgends entdecken. Wahrscheinlich hat er sich in die obere Etage zurück gezogen. Ihr ist jedoch der Zugang dorthin verwehrt. Vermutlich ruht er sich von der Arbeit als Arzt im Krankenhaus aus. Wie sein Zimmer wohl eingerichtet ist?
Sie würde schon gerne ihre Neugierde befriedigen und in das obere Stockwerk gehen.
Doch ihre Mitbewohner ließen keinen Zweifel daran, dass ihre Bedingungen nicht handelbar waren. So freundlich und zuvorkommend sie ihr gegenüber waren, umgab die beiden eine geheimnisvolle und manchmal angsteinflößende Aura. Die Folgen einer Übertretung ihrer Bedingungen wollte sie dann doch lieber nicht erfahren.
Bereits die Türklinke ihres Zimmers in der Hand hört sie die Stimme des Lehrers: „Ach, bitte denk daran, dass in zwei Tagen Vollmond ist. Du musst heute noch das Zitronenbäumchen umtopfen.“
Kelly stöhnt. Auch das noch. Sie musste an der Seminararbeit weiter schreiben und konnte nicht den Nachmittag als Gärtnerin tätig sein. Doch die Pflege der Zimmer- und Balkonpflanzen im Einklang mit dem Mondzyklus war einer der unumstößlichen Bedingungen gewesen, um in diese WG einziehen zu können.
Sie hatte geglaubt, dass in einem bisher reinem Männerhaushalt wenig Pflanzen existieren würden und diese sicher nicht nach den Mondphasen zu versorgen seien.
„Warum habt ihr so dermaßen viele Pflanzen?“ fragte Kelly an dem Abend, als sie gemeinsam zu Abend aßen.
Aidan antwortete zögerlich, dass seien die Pflanzen von Melissa.
„Melissa? Die Vormieterin?“
„Ja, sie hat in einem Blumenladen gearbeitet“.
Somit hatte Melissa das Penthouse und die Dachterrasse in eine grüne Hölle verwandelt.
In dem von Kelly bezogenen Zimmer standen Orchideen in verschiedenen Farben auf der Fensterbank. Die Küche war zum Kräutergarten geworden und auf der Dachterrasse standen Töpfe und Kübel mit Bambus, Hibiskus, Polsterglockenblumen, Begonien und Petunien.
Das Zitronenbäumchen konnte demnach laut Mondkalender, der an der Wand im Flur aufgehängt war, nicht warten. Dass man eine wichtige Seminararbeit fertig schreiben musste, davon stand nichts im Mondkalender.
Anfangs hatte Kelly die Gartenarbeit nicht gemocht, doch mit der Zeit hatte sie Freude daran gefunden und somit war das Umpflanzen des Zitronenbäumchens keine wirkliche Belastung mehr.
Später sitzt sie am Schreibtisch und formuliert weiter am Text über den Maler Gustav Klimt. Ins Zimmer strömt angenehm kühle Luft durch den Schacht der Klimaanlage. Die Möbel, Kleiderschrank, Kommode, Bett und Schreibtisch, hatte Kelly von ihrer Vormieterin behalten. Es war nicht ganz ihr Einrichtungsgeschmack, aber aufgrund ihrer finanziellen Situation behielt sie die Möbel. Die Gardinen mit Blumenmuster hatte sie jedoch durch eine Schlichte ersetzt.
Aus Chicago hatte sie ihre Staffelei her schicken lassen und die Kunstdrucke ihrer Lieblingsmaler an die Wand befestigt.
Ihre Mitbewohner sieht sie an diesem Tag nicht mehr, nur abends hörte sie Josh das Penthouse verlassen.
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