Mr. und Mrs. Snagsby sind nicht nur ein Leib und eine Seele, sondern der Meinung der Nachbarn nach auch nur eine einzige Stimme.
Diese Stimme, die nur von Mrs. Snagsby zu kommen scheint, wird oft in Cook's Court vernommen. Mr. Snagsby dagegen wird seltener gehört.
Er ist ein stiller, kahlköpfiger, schüchterner Mann mit einer glänzenden Platte, die hinten in einen bürstenartigen Schopf von schwarzem Haar ausläuft. Er neigt zur Sanftmut und Wohlbeleibtheit. Wenn er in seiner Tür in Cook's Court in seinem grauen Ladenrock und den schwarzen Schreibärmeln steht und die Wolken betrachtet oder hinter einem Pult in seinem dunkeln Laden mit einem schweren Lineal in Gesellschaft seiner beiden »Stifte« Pergament beschneidet, ist er so recht das Bild eines stillen und anspruchslosen Mannes.
Unter seinen Füßen ertönt zu solchen Zeiten, wie von einem ruhelosen Geist stammend, häufig schrilles Klagen und Jammern von der bereits erwähnten Stimme, und wenn es lauter wird als gewöhnlich, äußert Mr. Snagsby zuweilen gegen seine »Stifte«: »Ich glaube, meine Alte gibt es der Guster.«
Diesen Namen, den Mr. Snagsby immer buchstäblich so ausspricht, wollen die witzigen Cookshöflinge von dem alten Wort Gust, Sturmwirbel, abgeleitet wissen und behaupten dabei, daß eigentlich Mrs. Snagsby von Rechts wegen so heißen sollte. Der Name ist jedoch das einzige Eigentum mit Ausnahme eines Lohnes von fünfzig Schillingen pro Jahr und einem sehr kleinen, spärlich mit Kleidern gefüllten Koffer eines hagern jungen Mädchens aus einem Armenhaus, das wahrscheinlich Auguste hieß. Obgleich sie während der Zeit ihres Wachstums bei einem liebenswürdigen Wohltäter der wohlbekannten Sorte im Waisenasyl von Tooting untergebracht gewesen und sich natürlich unter außerordentlich günstigen Bedingungen entwickelte, hat sie doch Anfälle, die sich die Kirchspielbehörde nicht erklären kann.
Guster, in Wirklichkeit nur drei- oder vierundzwanzig Jahre alt, aber gute zehn Jahre älter aussehend, ist in Anbetracht ihrer rätselhaften Anfälle billig zu nennen; sie fürchtet so sehr, wieder zu ihrem Schutzheiligen zurückgeschickt zu werden, daß sie ununterbrochen arbeitet, außer, wenn man sie mit dem Kopf im Eimer, dem Ausguß, einem großen Kessel, einer Schüssel oder sonst irgendeinem Gegenstand, der zur Zeit ihres Anfalls zufällig in der Nähe steht, findet.
Sie wirkt beruhigend auf die Eltern und Vormünder der »Stifte«, die herausfühlen, daß sie nicht darnach angetan ist, zärtliche Empfindungen in einer jugendlichen Brust zu erwecken; sie wirkt beruhigend auf Mrs. Snagsby, die immer ungestraft Fehler an ihr finden darf; sie ist eine Beruhigung für Mr. Snagsby, der es für eine Tat christlicher Liebe ansieht, sie in Dienst zu behalten.
Das Haus ist in Gusters Augen der Gipfel des Überflusses und Glanzes. Das kleine Staatszimmer, eine Treppe hoch, das sozusagen stets sein Haar in Papilloten gewickelt und eine Schmutzschürze vorhat, hält sie für das schönste Zimmer der Christenheit. Die Aussicht, die man aus seinen Fenstern auf der einen Seite nach Cook's Court, auf der andern in den Hof des Polizeiamtes Coavins genießt – allerdings muß man den Hals schmerzhaft biegen, um auch Cursitor Street sehen zu können –, bedeutet für sie eine Aussicht von unvergleichlicher Schönheit. Die vielen Porträts in Öl, auf denen Mr. Snagsby Mrs. Snagsby und Mrs. Snagsby Mr. Snagsby ansieht, sind in ihren Augen Meisterwerke von Raffael oder Tizian. Guster wird also für ihre vielen Entbehrungen einigermaßen entschädigt.
Mr. Snagsby überläßt alles, was nicht in die praktischen Mysterien des Geschäfts gehört, Mrs. Snagsby. Sie hat die Kasse, streitet sich mit dem Steuerviertler herum, bestimmt Zeit und Ort des sonntäglichen Gottesdienstes, führt Aufsicht über Mr. Snagsbys Zerstreuungen und duldet keinen Einwand hinsichtlich dessen, was sie mittags auf den Tisch zu setzen für gut findet. Dadurch ist sie für die benachbarten Frauen, die halbe Chancery-Lane auf beiden Seiten und selbst bis Holborn hinaus ein hoher Vergleichsmaßstab geworden; alle Ehemänner werden bei häuslichen Zwistigkeiten auf Mrs. Snagsbys Stellung ihrem Gatten gegenüber und auf dessen Benehmen in ähnlichen Fällen hingewiesen.
Gerüchte, die immer wie Fledermäuse in Cook's Court zu jedermanns Fenster ein und aus flattern, behaupten, Mrs. Snagsby sei eifersüchtig und stecke überall die Nase hinein. Und das peinige Mr. Snagsby so, daß er es manchmal zu Hause gar nicht mehr aushalten könne. Er würde es sich nicht gefallen lassen, sagt man, wenn er nur soviel Mut wie eine Maus hätte. Es ist sogar bemerkt worden, daß die Frauen, die ihn so gern ihren widerspenstigen Ehemännern als leuchtendes Beispiel hinstellen, in Wirklichkeit auf ihn herabblicken, und insbesondere eine gewisse Dame, deren Eheherr im dringenden Verdacht steht, seinen Regenschirm an ihr als Besserungsinstrument versucht zu haben.
Aber diese vagen Gerüchte haben vielleicht darin ihren Grund, daß Mr. Snagsby in seiner Art ein etwas versonnener und poetischer Mann ist. Er geht gern im Sommer in Staple-Inn spazieren und freut sich über das ländliche Aussehen der Spatzen und Blätter. Den Sonntagnachmittag verlebt er gern in Rolls Yard und äußert, wenn er guter Laune ist, daß es einmal alte Zeiten gab und er wetten möge, man würde heute noch den einen oder andern steinernen Sarg unter der Kapelle finden, wenn man nur danach graben wollte. Auch labt er seine Phantasie durch die Erinnerung an die vielen seligen Kanzler und Vizekanzler und Archivare.
Es wird ihm so ländlich zumute, wenn er den beiden »Stiften« erzählt, er habe gehört, vorzeiten einmal sei wirklich ein Bach, so klar wie Kristall, Holborn hinabgelaufen, als der Steig noch ein wirklicher Steg, der geradewegs auf die Wiesen führte, war; dabei wird ihm so ländlich zumute, daß er sich gar nicht ins Freie sehnt.
Der Tag neigt sich seinem Ende zu, das Gas wird angezündet, aber noch nicht ganz aufgedreht, denn es ist noch nicht völlig dunkel. Mr. Snagsby blickt von seiner Ladentür zu den Wolken auf und sieht eine verspätete Krähe westwärts über das bleifarbene Stück Himmel, das zu Cook's Court gehört, segeln. Die Krähe fliegt quer über Chancery-Lane und Lincoln's-Inn-Garden nach Lincoln's-Inn-Fields.
Hier, in einem großen Haus, einem frühern Palais, wohnt Mr. Tulkinghorn. Die Zimmer sind jetzt als Kanzleien vermietet, und in diesen zusammengeschrumpften Resten vergangener Größe nisten jetzt Advokaten wie Maden in Nüssen. Aber seine geräumigen Treppen, Korridore und Vorzimmer sind immer noch vorhanden und selbst seine gemalten Plafonds, wo eine Allegorie im römischen Helm und himmlischen Linnen sich unter Balustraden und Pfeilern, Blumen, Wolken und fettbeinigen Kindern breit macht, daß einem der Kopf weh tut – was immer mehr oder weniger der Zweck der Allegorie zu sein scheint.
Hier unter seinen vielen mit fabelhaft vornehmen Namen bezettelten Kasten wohnt Mr. Tulkinghorn, wenn er nicht stummer Gast in Landhäusern ist, wo die Großen der Erde sich zu Tode langweilen. Hier sitzt er heute still an seinem Tisch.
Eine Auster von der alten Schule, die niemand aufmachen kann.
So wie er sieht auch das Zimmer in der Dämmerung des Nachmittags aus. Rostig, veraltet, sich den Blicken entziehend, solid und behäbig. Schwere altmodische Mahagonistühle mit breiten Rücken und Roßhaarpolstern, antike Tische mit dünnen Spindelbeinen und bestaubten Überzügen, in Kupfer gestochene Porträts, die Geschenke von vornehmen Titelinhabern der letzten oder vorletzten Generation, umgeben ihn. Ein dicker, dunkler, türkischer Teppich bedeckt den Fußboden, und Mr. Tulkinghorn sitzt zwischen zwei Kerzen und altmodischen silbernen Leuchtern, die das große Zimmer nur unvollkommen erhellen, am Tische.
Die Titel auf den Büchern haben sich in den Einband zurückgezogen; alles, was ein Schloß haben kann, hat eins, aber nirgends ist ein Schlüssel sichtbar. Nur wenige Papiere liegen herum. Neben sich hat Mr. Tulkinghorn ein Manuskript, aber er blickt nicht hinein. Mit dem Stöpsel eines Tintenfasses und zwei Stückchen Siegellack arbeitet er schweigend und langsam an einem Entschluß, über den er noch nicht im reinen ist. Jetzt liegt der Tintenstöpsel in der Mitte, dann das rote Stück Siegellack, dann das schwarze. Es geht nicht zusammen; Mr. Tulkinghorn muß sie alle wieder zusammenschieben und von neuem anfangen.
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