Er störte damit nicht im mindesten den Vogel, der sich vollkommen sicher fühlte und auf dem Tische herumhüpfte und von Zeit zu Zeit das kleine Köpfchen auf die Seite legte und mit einem schnellen Blick seinen Herrn wie seinesgleichen ansah.
»Aber wie steht es mit dem Wegerecht, um das du dich mit deinem Nachbarn streitest?« fragte Mr. Jarndyce. »Du leidest doch selbst unter der Last der Gesetze.«
»Der Kerl hat mich wegen Eigentumsverletzung verklagt, und ich habe ihn wegen Eigentumsverletzung verklagt«, erwiderte Mr. Boythorn. »Bei Gott, er ist der stolzeste Bursche, der jemals gelebt hat. Es ist ganz unmöglich, daß er wirklich Sir Leicester heißt, er sollte Sir Lucifer heißen.«
»Ein Kompliment für unsern entfernten Verwandten«, sagte mein Vormund lachend zu Ada und Richard.
»Ich würde Miß Clare und Mr. Carstone um Entschuldigung bitten«, fuhr unser Besuch fort, »wenn mir nicht das freundliche Gesicht der Dame und das Lächeln des Herrn sagten, daß es nicht angebracht ist und sie sich ihren entfernten Verwandten in respektvoller Entfernung vom Leibe zu halten wissen.«
»Er hält sich uns vom Leibe«, verbesserte Richard.
»Meiner Seel«, gab Mr. Boythorn wieder eine Breitseite ab. »Dieser Kerl ist – und sein Vater und sein Großvater waren es ebenfalls – der steifnackigste, arroganteste, einfältigste, dickköpfigste Pinsel, der jemals durch ein unerklärliches Mißverständnis der Natur zu etwas anderm als zu einem Spazierstock geboren wurde. Die ganze Familie besteht aus den eingebildetsten Strohköpfen... Aber es macht nichts, er soll mir meinen Weg nicht versperren und wenn er der Extrakt von fünfzig Baronets wäre und in hundert Chesney Wolds, eins in das andre geschachtelt wie die geschnitzten chinesischen Elfenbeinkugeln, wohnte. Schreibt mir der Kerl durch seinen Agenten oder seinen Sekretär oder sonst jemanden: Sir Leicester Dedlock, Baronet, empfiehlt sich Mr. Lawrence Boythorn und macht ihn auf den Umstand aufmerksam, daß der Wiesenpfad bei dem alten Pfarrhause, gegenwärtig in Mr. Lawrence Boythorns Besitz, Sir Leicesters Wegerecht ist, da er in Wirklichkeit einen Teil des Parks von Chesney Wold bildet, und daß Sir Leicester es für angemessen erachtet, ihn zu schließen. Ich schreibe an den Kerl: Mr. Lawrence Boythorn empfiehlt sich Sir Leicester Dedlock, Baronet, und macht 'ihn' auf den Umstand aufmerksam, daß er die Richtigkeit von Sir Leicester Dedlocks Ansprüchen auf irgend etwas in jeder Hinsicht leugnet und in bezug auf das Sperren des Wiesenpfades hinzusetzt, daß er sich freuen würde, den Mann zu sehen, der es zu unternehmen wagt.
Der Kerl schickt einen gottverlassenen Strolch mit einem Auge, um ein Gitter bauen zu lassen. Ich bearbeite den Burschen mit der Feuerspritze, bis er fast keinen Atem mehr im Leibe hat. Der Bursche baut während der Nacht ein Gitter. Ich hacke es um und verbrenne es am andern Morgen. Der Baronet schickt seine Myrmidonen, läßt sie über das Gehege klettern und schickt sie hin und her. Ich fange sie in unschädlichen Fallen, schieße ihnen gespaltene Erbsen in die Beine, bearbeite sie mit einer Feuerspritze und bin entschlossen, die Menschheit von der unerträglichen Last des Daseins dieser wegelagernden Schurken zu befreien. Er klagt wegen unrechtmäßigen Betretens fremder Grundstücke, ich tue desgleichen. Er klagt wegen Realinjurie; ich verteidige meinen Grund und Boden und fahre unbeirrt mit Realinjurien fort. Hahaha!«
Wer ihn das mit seiner unerhörten Energie sagen hörte, hätte ihn für den größten Wüterich halten müssen. Und wer ihn zur selben Zeit dem Vogel auf seinem Daumen die Federn glattstreichen gesehen hätte, würde ihn für den sanftmütigsten aller Menschen gehalten haben. Ihn lachen zu hören und sein offenes gutmütiges Gesicht zu sehen, hieß, überzeugt sein, daß er auf der Welt keine Sorge, keinen Streit, keine Abneigung kenne und daß sein ganzes Dasein ein sonniger Scherz sei.
»Nein, nein«, schwor er. »Meine Wege lasse ich mir von keinem Dedlock absperren, obgleich ich gerne zugestehe« – hier wurde er einen Augenblick milde – »daß Lady Dedlock eine vollendete Weltdame ist, der ich jede Huldigung darbringen würde, die ein einfacher Gentleman und kein Baronet mit einem siebenhundert Jahr alten Dickkopf darbringen kann. Ein Mann, der mit zwanzig Jahren zum Regiment kam und acht Tage darauf den frechsten und anmaßendsten Bengel von einem kommandierenden Offizier, der jemals durch eine geschnürte Taille Atem holte, forderte – und dafür kassiert wurde –, ist nicht der Mann, sich von allen Sir Lucifers zusammengenommen auf der Nase herumtanzen zu lassen. Hahaha!«
»Auch nicht der Mann, der duldet, daß man seinem Jüngern Kameraden auf der Nase herumtanzt«, fügte mein Vormund hinzu.
»Ganz gewiß nicht!« Mr. Boythorn schlug Mr. Jarndyce mit einer Gönnermiene, die, trotzdem er lachte, etwas Ernstes hatte, auf die Schulter. »Er wird stets dem kleinen Jungen beistehen, Jarndyce! Du kannst dich auf ihn verlassen. Aber, um wieder von der Eigentumsverletzung zu sprechen – ich muß Miß Clare und Miß Summerson um Verzeihung bitten, daß ich solange bei dem trocknen Thema verweile –, ist nichts von deinen Anwälten Kenge & Carboy für mich gekommen?«
»Ich glaube nicht, Esther?«
»Nichts, Vormund.«
»Sehr verbunden. Hätte nicht zu fragen brauchen, selbst bei meiner geringen Erfahrung von Miß Summersons Fürsorglichkeit für jeden, der in ihre Nähe kommt. Ich fragte nur, weil ich von Lincolnshire herüberfuhr und natürlich nicht in London gewesen bin. Ich glaubte, man habe vielleicht einige Briefe hierher geschickt. Wahrscheinlich wird morgen früh Nachricht kommen.«
Im Verlauf des Abends, der uns sehr angenehm verging, sah ich ihn oft Richard und Ada mit einer sympathischen Teilnahme und Befriedigung betrachten. Er saß in geringer Entfernung vom Piano und hörte der Musik zu, die er leidenschaftlich liebte, wie sein Gesicht verriet. Mein Vormund saß mit mir am Pochbrett, und ich fragte ihn, ob Mr. Boythorn jemals verheiratet gewesen sei.«
»Nein«, sagte er, »nein.«
»Aber er hat heiraten wollen?«
»Wie hast du das erraten?« fragte Mr. Jarndyce lächelnd.
»Siehst du, Vormund«, gab ich zur Antwort und mußte ein wenig erröten, »es liegt etwas so Zartes in seinem Benehmen, und er ist so höflich und liebenswürdig zu uns und...«
Mr. Jarndyce blickte nach ihm hin.
Ich sagte weiter nichts.
»Du hast recht, Mütterchen. Er stand einmal dicht vor dem Heiraten. Vor langer Zeit. Nur ein Mal.«
»Starb die Dame?«
»Nein... Aber sie starb für ihn. Diese Zeit hat auf sein ganzes späteres Leben Einfluß gehabt. Würdest du glauben, daß sein Kopf und sein Herz jetzt noch voll Romantik stecken?«
»Ich glaube, Vormund, ich hätte das angenommen. Aber jetzt läßt es sich leicht sagen, wo du es mir verraten hast.«
»Er ist seitdem nie gewesen, was er hätte sein können, und jetzt in seinem Alter hat er niemand um sich als seinen Bedienten und seinen kleinen, gelben Freund. – Du bist am Wurf, liebe Esther. Da hast du den Würfelbecher.«
Ich merkte an der Stimmung meines Vormunds, daß ich, sollte nicht Ostwind eintreten, das Thema nicht weiter verfolgen dürfe. Ich stand daher von weiteren Fragen ab. Meine Teilnahme war erregt, aber nicht meine Neugierde. Des Nachts, als mich Mr. Boythorns lautes Schnarchen weckte, mußte ich ein wenig über diese alte Liebesgeschichte nachdenken und versuchte etwas sehr Schweres, nämlich, mir alte Leute jung und in den Reizen der Jugend vorzustellen. Aber ich schlief wieder ein, ehe es mir gelang, und träumte von der Zeit, wo ich bei meiner Patin gewesen war. Ich bin in derlei Dingen nicht bewandert genug, um zu wissen, ob es überhaupt merkwürdig ist, daß ich fast immer von diesem Lebensabschnitt träumte.
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