Ich dachte einen Moment nach, beobachtet von meinem Zuhörer, sinnierte dann: »Die einzige Wahrheit der Welt liegt in ihrer Stille.«
Der Psychologe und ich lachten kurz, denn diese Phrase hatte er in unseren Sitzungen öfter von mir gehört. Er wollte von allem wissen, was ich als wahr empfand, selbst wenn es nie wirklich stattgefunden hatte. Ich schloss meine Augen und holte mir eine meiner Visionen hervor, die ich zeit meines Lebens nie vergessen hatte.
»Meine fiktiven Wesen sind Tiere, die aber wie Menschen auf zwei Beinen laufen. Sie haben Fell, tragen aber Kleidung und können sprechen. Wenn man so will, sind sie eine Art Hybriden-Wesen, Tier-Menschen, Anthros, die ebenso Bedürfnisse haben wie wir. Ich habe irgendwann damit angefangen, mir in solchen Geschöpfen meine Vorbilder zu suchen. Das ging so weit, dass ich mich in eines von ihnen verliebte.«
Der Psychologe schaute mich gespannt an, als ich wieder die Augen öffnete.
»In ein männliches oder weibliches?«, fragte er, obwohl er es eigentlich hätte besser wissen müssen.
Ich antwortete nicht, was in seinem Kopf ein lautes Klingeln hervorzurufen schien.
»Verstehe. Wer war er?«, fragte er weiter.
»Nein, wer ist er?«, korrigierte ich und erzählte weiter, nachdem ich mich räusperte. »Sein Name ist Fox McCloud.«
Als ich diesen Namen nannte, drohte mein Herz förmlich zu zerspringen. Sofort stellte ich mir eine bewegte Szene von ihm vor und grinste. Ein tolles Gefühl!
»Ich habe ihn nicht selbst erfunden. Er ist eine Figur aus einem Videospiel. Wie soll ich sagen? Jemand anderes hat ihn gemacht.« Ich pausierte und suchte nach den passenden Worten, die auch er verstehen würde.
»Was fühlen Sie, wenn Sie an ihn denken?«, fragte mein Zuhörer, offenbar sehr interessiert.
»Tiefe, unendliche Liebe. Eine Art Wärme, Geborgenheit. Ich weiß nicht, woher sie kommt, aber dennoch ist sie da. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Liebe so stark sein kann, dass man eine ganze fiktive Welt für jemanden entwickelt«, bemerkte ich und drehte meinen Kopf nach links, sodass mein Blick auf das an der Wand hängende Bild Fox McClouds fiel. Sofort erblickte ich vor meinem inneren Auge kurze Bildsequenzen, in denen meine Hand über den pelzigen Körper dieses Fuchses strich.
Mein Gegenüber folgte meinem Blick und schien schlagartig zu verstehen. »Er ist offenbar sehr maskulin«, merkte er an und unterbrach meine Gedanken.
»Allerdings«, grinste ich süffisant. Ich seufzte und sprach weiter, ohne den Psychologen anzusehen: »Nun, wie auch immer … Ich habe mich in ihn verliebt, in ihm einen Ersatz gefunden. Nur deswegen gibt es die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will. Und das will ich abschließen, ehe meine Zeit zu Ende geht.«
Nachdenklich fragte mein Zuhörer mich: »Okay, das verstehe ich irgendwie. Was aber soll ich eigentlich mit dem Text anfangen, den Sie hier draufsprechen?«
»Damit können Sie tun und lassen, was immer Sie wollen«, meinte ich. »Sie können daraus ja ein Buch machen. Vielleicht liest es ja jemand. Wichtig ist mir nur, dass ich Ihnen alles erzählt habe.«
»Also gut. Was wir damit machen, können wir später noch besprechen. Ich würde sagen, ich verhalte mich jetzt still und Sie legen einfach los. Sagen Sie, wenn Sie eine Pause brauchen, Herr Gajaze.«
»Okay, also los«, sagte ich und ein weiterer, tiefer Seufzer folgte.
»Die Geschichte besagter Wesen und meiner Liebe zu ihnen beginnt mit der Theorie, dass es immer einen Ursprungspunkt geben muss – vielleicht jemand Göttlichen, der die Idee hatte, etwas zu erschaffen. Dies ist die Entstehungsgeschichte aus der Sicht meiner Freunde, meiner geliebten Wesen, welche ebenfalls auf der immerwährenden Suche nach einer Antwort auf die drei größten aller Fragen waren: »Wer sind wir, woher kommen wir, wo gehen wir hin?«
R
esidierend am Anfang einer dunklen Stunde schufen sieben Götter die Welt. Sie war nicht die, wie wir sie heute kennen: Dort gab es zuerst nichts als Wasser und die Lande, die unsere Arten heute so zahlreich bevölkern. Als die Schöpfer feststellten, dass die neue Welt farb- und leblos erschien, langweilten sie sich und beschlossen, sie mit vielen verschiedenen Lebewesen zu besiedeln. Dabei ließen sie ihren Ideen freien Lauf: So entwickelte die junge Natur schnell eine Vielzahl von Lebensformen. Jede Art war mit ganz eigenen Fähigkeiten ausgestattet.
Den Göttern gefiel es, dabei zuzusehen, welche Kämpfe sie ausfochten, um den jeweils anderen Rassen überlegen zu sein und das Überleben der eigenen zu sichern. Abermillionen Gattungen bewohnten den Planeten AlphaVul und ähnlich den Tieren auf Gaja, dem Heimatort der Menschen, gab es Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien, Fische und einige mehr. Wie auf Gaja waren die Säugetiere keiner komplexen Sprache mächtig. Die vielen Arten verstanden sich auch nicht untereinander und so waren sie gefangen in einem sich stets wiederholenden Wettstreit um die Vorherrschaft auf AlphaVul. Einige von ihnen starben schließlich aus, worüber sich ihre Götter jedoch keine Gedanken machten. Sie amüsierten sich darüber, wenn eine Gattung eine andere mithilfe von Trieben bezwungen und ausgelöscht hatte. Ohne, dass es hier schlichtweg um das Töten des Hungers wegen ging, metzelten sie sich gegenseitig nieder.
Doch einem der Götter gefiel bald nicht mehr, wessen er mitverantwortlich war und er beschloss, dem ein Ende zu setzen. Man wollte einen besseren Planeten schaffen, als es Gaja geworden war. Auf ihr gab es nun, dank der Menschen, keine anderen Tiere mehr außer ihnen selbst. Dieses Schicksal sollte der neuen Schöpfung erspart bleiben und so übertrug der einsichtige Gott den Tieren die Fähigkeit miteinander zu sprechen. Jede Art, die es auf AlphaVul gab, sollte ihre eigene Sprache erlernen und erweitern können. So könnte sie ihre Individualität behalten, würde aber dazu angehalten sein, mit anderen Arten zu kommunizieren und durch das Erlernen ihren Geist zu weiten.
Was ihr Bruder tat, gefiel den anderen sechs Göttern gar nicht, woraufhin sie beschlossen, den Widersacher zu verbannen: Er sollte als einziger Humanoide, als Mensch, auf AlphaVul leben – nackt, blind und stumm. Seine göttlichen Fähigkeiten würden sie ihm nehmen, bis auf die Macht der Unsterblichkeit. Ihr Verwandter sollte nicht einsam und verlassen altern und schließlich verenden, sondern in alle Ewigkeit einen barbarischen Kampf ums Überleben führen. Sie nahmen ihm die Sprache und das Sehen und als Strafe für seine eigenmächtigen, unabänderlichen Taten sollte er aber alle ihn umgebenden Geräusche hören können, wie auch die schmähenden Worte seiner ehemaligen Brüder, der Götter.
Der Abtrünnige lag nackt und stumm auf einer Wiese, und nun würde er von irgendwelchen Tieren getötet und gefressen werden. Zum ersten Mal fühlte er den kühlen Hauch von Wind auf seiner Haut, die er nun besaß. Es kribbelte und er bekam auf seinen Armen eine Gänsehaut.
Er zitterte und versuchte zu schreien, doch es ertönte kein Laut. Der Mensch setzte sich auf und das Gras wog sich, doch sah er nichts davon, hörte es nur. Wo er sich nun befand, konnte er lediglich mit seinen Händen ertasten.
›Euch schwöre ich Rache!‹, dachte er bei sich und blieb still und regungslos lauschend im Gras sitzen, bereit zu sterben, wann immer die anderen ihn lassen würden.
Nach einiger Zeit hörte er, wie sich etwas näherte, und streckte seine Hand danach aus. Das hohe Gras direkt vor ihm raschelte und er hatte sehr viel Angst. Nie zuvor hatte er Geräusche wie diese wahrgenommen und sein Atem wurde immer schneller, als sein Herz ihm bis in die Kehle zu klopfen schien.
Plötzlich spürte er weiches, langes Fell auf seiner Handfläche. Ein warmer Atem schlug ihm entgegen und ein Schnuppern war zu hören.
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