Das waren Geschöpfe, Tieren ähnlich, die auf zwei Beinen laufen und sprechen konnten. Wesen, die mein Leben vom Anbeginn meiner Zeit bis zu deren Ende begleiteten. Ich hatte viel mit ihnen erlebt, schwere Zeiten mit ihrer Hilfe überwunden und wurde so irgendwann ein Teil ihrer Welt.
Wer oder was diese Kreaturen waren, woher sie kamen, wo sie lebten und was sie ausmachte: Die Antworten darauf werden Dich nicht immer erfreuen, soviel sei vorab gesagt. Wenn Du aber den Mut hast weiterzulesen, manchmal vielleicht die Zähne zusammenzubeißen, dann verspreche ich Dir, wirst Du eine sehr lehrreiche, fantastische und ehrliche Geschichte lesen, wie Du sie noch nie vernommen hast …
Einst war ich Chenerah Gajaze.
Doch eigentlich war ich es nicht. Das war nur der Name, den ich mir einst selbst gegeben hatte. Ein Name, den die Welt um mich herum nie akzeptierte. Ich gab ihn mir aus Liebe und Leidenschaft und er war bezeichnend für meine Ehrerbietung, die ich meiner Welt zuteilwerden ließ. Er war auferstanden aus den Wirren eines Krieges, den mein Geist mit sich selbst führte, einem Kampf dreier Persönlichkeiten. Es ging keiner von ihnen um die Vorherrschaft in meinen Gedanken, jedoch wollte jede von ihnen Teil der anderen sein, ewig miteinander verbunden, geordnet und klar.
Der Weg dorthin fiel mir nicht leicht und es kostete unendlich viel Kraft zu begreifen, dass dieser Kampf meine Persönlichkeit ausmachte.
Meinen drei Geistern zu helfen, sich miteinander zu vereinen, war das schwierigste Unterfangen, welches ich je erstreiten wollte. Es fiel mir schwer, all ihren Gesprächen und Argumenten zuzuhören, ohne einem von ihnen recht zu geben und die anderen damit zu verletzen.
Ich war ein Kind des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. So blieb ich auch immer (gefühlt) für mich allein, bis ich irgendwann erkannte, dass es mein inneres Bestreben war, meinen Träumen und Wünschen zu begegnen. Es dauerte viele Jahre, bis ich herausfand, wie einsam ich war, auf der Suche nach diesen Wesen, die ich unter all den Menschen, die mich umgaben, niemals hätte finden können.
Sieben Jahre Einsamkeit. Im Anschluss dann ein Ende mit Schrecken. Das Ende meiner Zeit. Es war ganz nah, das fühlte ich. Hätte ich nicht in diesem Krankenzimmer gelegen, hätte ich es auch so gewusst: Die Zeit rann mir durch meine Hände wie Sand. Unaufhaltsam bahnte sich mein Schicksal seinen Weg, denn meine letzten Tage waren angebrochen.
So lag ich nun da, in diesem Zimmer, an diesem sterilen, trostlosen und einsamen Ort und blickte bewegungsmüde aus dem großen Fenster. Man war meinem Wunsch gefolgt und hatte das Bett Richtung Osten gedreht, dorthin, wo die Sonne aufging.
Konzentriert blickte ich zum Horizont, den der offene Hinterhof des Hospizes freigab. Ich dachte über den anstehenden Termin nach: Mein Psychologe wollte mich besuchen, um mich wieder zu interviewen. Er war sehr aufgeschlossen, was mir sehr wichtig war. Schließlich sollte ich bald an diesem bescheuerten Magenkrebs sterben; und da war es mir schon recht, wenn jemand Neutrales sich anhörte, was ich abschließend zum Leben noch zu sagen hatte.
Ich wollte keine großen Reden schwingen oder irgendwelche Weisheiten zum Besten geben, die ich eh nicht zu meinen Erkenntnissen zählte, sondern einfach nur reden. Über mein Leben, meine Ideen, das alles hier. Über Glaube, Liebe, Hoffnung – nicht über die Traurigkeit, die ich logischerweise empfand. Ich meine, nicht jeden Tag bekommt man die erschütternde Diagnose ›Krebs im Endstadium‹. Sie war unumstößlich, sollte mich aber nicht davon abhalten, jemandem meine Geschichte zu erzählen – im Gegenteil: Jetzt hatte ich das drängende Gefühl, es sei an der Zeit; und ich hoffte, es bliebe genug von ihr übrig um all das zu sagen, was ich glaubte loswerden zu wollen.
Immer wenn ich aus diesem Fenster starrte und die Leute beobachtete, die im Innenhof Angehörige in Rollstühlen durch die Gegend fuhren, schienen manche von ihnen verschwunden, andere hinzugekommen zu sein.
Alle, die sie dasaßen, mussten sterben.
Die Alten und Jungen.
Dazu waren sie schließlich hier.
Merkwürdigerweise konnte ich in den Augen ihrer schiebenden Genossen nie einen Ausdruck wahrhaftiger Trauer entdecken. Still und langsam rollten sie diese Karren vor sich her, in Gedanken wohl gar nicht realisierend, dass es stets das letzte Mal sein könnte, dass sie ihre Lieben sehen würden.
Mein Sinnieren wurde harsch unterbrochen, als plötzlich die Zimmertür aufging und ich erschrak. Mein Psychologe war gekommen und klopfte wieder einmal nicht an. Manieren hatte er nicht, aber vielleicht gefiel er mir deswegen auch so.
Er war Mitte vierzig, trug einen Vollbart und hatte grau meliertes Haar. Manchmal wirkte er schusselig und irgendwie so, als würde er sein Äußeres vernachlässigen. Obwohl ich der Meinung war, er hätte mehr aus sich machen können, schien er jedoch nicht ungepflegt zu sein.
»Hallo und guten Tag, Herr Gajaze! Wie geht es Ihnen heute?«, fragte er und ging auf mein Bett zu.
»Sie haben mich ganz schön erschreckt«, schmetterte ich dieser Floskel entgegen.
»Tut mir leid.«
»Alles in allem ist es schon ganz nett hier, sobald meine Drogen anfangen zu wirken. Sie machen die Sache hier deutlich bunter.«
Der Psychologe grinste und holte sich einen Stuhl, den er neben mein Bett stellte und sich setzte.
»Haben Sie heute Ihr Diktiergerät dabei?«, fragte ich.
»Ja, habe ich«, bestätigte er und holte besagten Gegenstand aus der Tasche seines langen, braunen Mantels.
»Das ist schön«, lächelte ich und fragte ihn nach seinen Vorstellungen vom Ablauf des heutigen Interviews.
»Nun«, seufzte er und legte den Apparat auf den Nachttisch, »ich würde sagen, wir machen es so wie immer. Sie wollten mir heute ja etwas mehr erzählen. Legen Sie los, wann immer Ihnen danach ist. Ich und das Diktiergerät sprechen nicht und hören nur zu. Solange Sie möchten und sich fit genug fühlen, versteht sich. Ich jedenfalls habe viel Zeit mitgebracht.«
Ich nickte.
»Sie können auch jederzeit aufhören oder pausieren. Alles wird auf der Speicherkarte aufgezeichnet. Ich kann die Datei dann im Nachhinein bearbeiten.«
Ich dachte kurz nach und sagte dann: »Sie sollten wissen, dass ich Ihnen die volle Wahrheit sagen werde.«
»Das setze ich voraus, Herr Gajaze. Das ist schließlich in Ihrem Interesse«, bestätigte der Psychologe. »Lügen würde ja keinen Sinn ergeben.«
Ich blickte einen Moment lang erneut zum Fenster und mahnte: »Sie werden Dinge hören, die keiner von denen jemals verstanden hat. Manches wird sehr böse, anderes sehr abscheulich wirken. Also sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
»Herr Gajaze …«, entgegnete er, worauf ich den Kopf wieder in seine Richtung drehte, »Sie können hier sagen, was immer Sie wollen. Niemand wird Sie für irgendwas je zur Rechenschaft ziehen.«
»Ja, schließlich sterbe ich. Was will man mir noch vorhalten?«, meinte ich abwertend.
»Es ist schade, dass Sie sich nicht rechtzeitig haben helfen lassen, aber das war eben Ihre Entscheidung, Herr Gajaze. Ich respektiere das, wie Sie wissen. Es hat durchaus seine Vorteile: Sie sind jetzt quasi unantastbar«, bestätigte mein Zuhörer.
»So ist es. Dann erzähle ich Ihnen jetzt, wer ich bin, wer ich sein wollte und woran ich dabei gescheitert bin. Läuft das Gerät?«
Der Mann erschrak leicht und schaltete den Rekorder ein, was er mir mit einem »So, jetzt« klarmachte.
Mein Herz klopfte stark. Ich war sehr aufgeregt, denn zum ersten Mal würde ich einem Menschen die ganze Geschichte meiner eigenen Welt erzählen. Vollkommen ungeschminkt, manchmal hart, peinlich, aber auch sehr schön, lustig und euphorisch.
Ich entspannte meinen Körper und atmete tief ein. Es fiel mir leichter, zu sprechen, wenn ich dabei niemanden ansah. Also schaute ich zur Decke, sodass ich in meinen Augenwinkeln nichts mehr erkennen konnte. So wirkte es, als blickte ich in eine reine, weiße Unendlichkeit, die ich fast schon hätte anfassen können.
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