Helfried Stockhofe - Kuckucksgeschwister
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Helfried Stockhofe
Kuckucksgeschwister
Helfried Stockhofe: Kuckucksgeschwister
Text und Umschlaggestaltung: © 2021 Copyright Helfried Stockhofe
Verlag: Helfried Stockhofe, Untere Ringstr. 22, 93455 Traitsching
helfried.stockhofe@web.de
Druck: epubli, ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Helfried Stockhofe
Kuckucksgeschwister
und immer dieselbe Frage:
Kommt zusammen,was zusammengehört?
„Schneeweißchen und Rosenrot, fürchtet euch nicht, wartet, ich will mit euch gehen.“ Da erkannten sie seine Stimme und blieben stehen, und als der Bär bei ihnen war, fiel plötzlich die Bärenhaut ab, und er stand da als ein schöner Mann, ganz in Gold gekleidet.
(Aus Brüder Grimm: Schneeweißchen und Rosenrot)
Kuckucksgeschwister
Eine Lesung vor *innen
Das Geschlechter-Interview
Märchenhafte Freundschaften
Nicht wirklich eine Schwester
Verbundene Familien
Erklärungsversuche
Neuanfangsexperimente
Eine Lesung vor *innen
1
Ein kurzer Rock Wie kann man nur Sie hätte es sich doch denken können Schulbank so eine Schulbank vom Lesesaal irgendwie schäbig Provinz eben wird sie sagen und sie schaut verlegen "Liebe Zuhörer innen" wirklich Zuhörer innen nicht Zuhörer und Zuhörerinnen Zuhörer innen mit einer Pause vor dem Innen Verschlusslaut besser Verschlucklaut Eine Sperre beim Sprechen als wollte ihr das Innen nicht von den Lippen kommen Political Correctness muss halt sein Zeit ist Geld Zuhörerinnen und Zuhörer dauert länger Ein Alptraum nein Albtraum sagt jetzt der Duden Anpassung an schlampige Sprache Aus Alptraum wird Albtraum aus Zuhörer und Zuhörerinnen werden Zuhörer innen mit einem Sternchen dazwischen Ist ein Albtraum Aber man gewöhnt sich dran soll sich dran gewöhnen dann kann man wieder zur Tagesordnung übergehen Nächstes Jahr hat man sich daran gewöhnt und frau auch Blödes frau Vielleicht reicht das Sternchen den Frauen Sie schlägt die nackten Beine übereinander hat was zum Vorzeigen Grad dass man das Höschen nicht sieht Sternchen und nackte Beine "Ich freue mich hier zu sein" Political Correctness sag ich doch Freut sie sich wirklich Alle schauen freundlich Ich nicht Ich bin gespannt Nackte Beine Alter schau ihr ins Gesicht nicht auf die Beine!
"Das wird eine tolle Lesung", hatte mir die Lies gesagt, unsere Stadtbibliothekarin, die Leseratte Lies, die schon im Namen ihre Berufung trägt. "Ja, meinst du?", hatte ich zurückgefragt. "Ich hab von der noch nie etwas gelesen." Und sie: "Dann wird es Zeit, dass du sie wenigstens mal hörst!" Sogar an die Wand der Führerscheinstelle hatte sie ein Plakat hingehängt, das für die Lesung warb, mit Tesastreifen an die gegenüberliegende Wand des Vorraums, von dem ich durch eine Glasscheibe getrennt bin, so richtig in meinem Blickfeld und so, dass alle Vorübergehenden es nicht übersehen konnten. „Extra für mich?“, hatte ich sie gefragt und sie hatte gelacht.
Ein schönes Gesicht, dachte ich mir, als ich das Plakat sah, das lassen wir hängen. Tag für Tag hab ich es angeschaut und mich jeden Tag ein wenig mehr auf die Lesung gefreut. Ein schönes Gesicht, aber sicher mit Fotoshop bearbeitet, nahm ich an. Aber man weiß ja nie. Die Augen groß und blau mit einem dezenten Grauton, durch eine Brille mich anschauend, eine Brille mit roter Fassung! Sie will auffallen, dachte ich mir. Die Haare blond, lockig, halblang. Irgendetwas an dem Gesicht war mir rätselhaft vertraut. Das war wohl Absicht, so wie ihr geheimnisvolles Lächeln. Geheimnisvolle Vertrautheit, raffiniert! Kein ganz bestimmter Typ und kein besonderer Typ. Oder war gerade das das Besondere? Natürlich erschien sie auf dem Plakat zeitlos jung. Ich schätzte sie auf Vierzig. Doch sie sah so aus, als wäre das Alter völlig egal. Und jeden Tag, wenn ich zur Arbeit kam, lächelte sie mich an. Das machen die meisten Menschen nicht, schon gar nicht die Frauen, schon gar nicht die Frauen auf der Arbeit, die Arbeiter*innen mit Sternchen. Obwohl: Die Arbeiterinnen brauchen ja das Sternchen nicht. Nur solange das Sternchen noch aufregt, bringt es den Frauen etwas, wenn es Alltag ist, werden sie sich wieder hintanstellen müssen. Arbeiterinnen ist eh keine schöne Bezeichnung, klingt nach Bienen. Oder Ameisen.
Mit den Beinen lenkt sie von ihrem Gesicht ab und von ihrem Buch Will sie das Oder bin ich der Einzige der auf die Beine starrt Die Schuhe interessieren mich nicht Was nur die Frauen mit den Schuhen haben Und erst recht die Männer Ach deshalb haben es die Frauen mit den Schuhen Schuhe interessieren mich nicht Bin ich kein richtiger Mann Jetzt stellt sie die Beine gerade hin geschlossen wie es ihr die Mutter beigebracht hat kein Einblick "Die Sonne hatte sich hinter der Wolke verzogen" Wieso nicht umgekehrt Die Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben Figur-Grund-Problem Soll die Sonne die Aktive sein die Wolke nur eine Randfigur Oder ist die Wolke die Starke hinter der sich die schutzbedürftige Sonne verstecken will Auf jeden Fall hat sich die Wolke vor die Sonne geschoben ist doch wohl logisch Was will sie uns sagen mit "Die Sonne hatte sich hinter der Wolke verzogen" Heißt es nicht „Die Sonne hatte sich hinter die Wolke verzogen“ Sie schaut mich an zögert Hat sie meine Gedanken gehört Lächelt sie?
Ist es ein spöttisches Lächeln für meine Genauigkeit, für meine Erbsenzählerei, wie es manche höflich ausdrücken, für meine Korinthenkackerei, wie es sich manche Kollegen und Kolleginnen, neuerdings Kolleg*innen, nicht zu sagen trauen, oder für meine Tipferlscheißerei, wie es mir der Wigbert vorwirft? Mein Bruder Wigbert, der keine Tipferl scheißt. Dann kommt noch gleich der nächste Vorwurf: meine ewige Prinzipienreiterei! Aber das kann die seltsame Autorin dieses seltsamen Buches ja nicht wissen. „Die Frau auf der Trompete.“ Was soll dieser Titel? Will sie originell sein? Sicher will sie originell sein. Ohne das geht es heutzutage nicht. Soll der Titel womöglich eine Anspielung auf sexuelle Aktivitäten sein? Ohne das geht es heutzutage auch nicht. Ist die Trompete das beste Stück des Mannes? Bläst sie auf dieser Trompete? Oder ist die Trompete nur ein Instrument zur sexuellen Befriedigung wie die obligatorische Schlangengurke oder Banane? „Die Frau auf der Trompete“. Deshalb stand im Hintergrund eine Trompete - auf dem Plakat in der Führerscheinstelle. Der Titel stand nicht mit drauf. Warum nicht? Womöglich befürchtete sie, dass die Originalität den Bogen überspannt hätte. „So ein Blödsinn!“, hätten die in der Führerscheinstelle Vorübergehenden gesagt. Oder hätten sie an den biographischen Film über Udo Jürgens gedacht? Saxophon und Trompete, das liegt nahe. Der Titel soll eine Verbindung zu Udo Jürgens herstellen. Mit allen Tricks wird heutzutage gearbeitet. Vielleicht will sie nicht tricksen oder nicht sich einen Trick nachsagen lassen, deshalb wirbt sie auf dem Plakat nicht mit dem Buchtitel, sondern nur mit sich und ihrem schönen Gesicht.
Stiert in ihr Buch als wollte sie in die Trompete reinblasen Flötet aber runzelt die Stirn Kindheit ja klar auch ohne die geht es nicht Wahrscheinlich stirbt gleich die Mutter oder der Vater missbraucht die Kleine Drama pur Ach sie bekommt eine Trompete ganz banal Eine Trompete für ein Mädchen das ist nicht banal Wozu und warum Sie rasen wieder davon die Gedanken und Fantasien meine Fantasien Warum warten sie nicht ab Werd es schon noch erfahren Sie wird es mir schon noch erzählen Jetzt lächelt sie wieder Nackte Beine wieder übereinander in die andere Richtung diesmal Glatt rasiert kräftig gewadelt Ein Schuh klappt am Fuß herunter Klack kümmert sie nicht ist wohl eine Nummer zu groß Warum Ein Blickfänger Ein Ablenker Alles berechnet durchkalkuliert Weil das Mädchen zu große Schuhe geschenkt bekommt Trompete und Schuhe gehören irgendwie zusammen Alter schau wieder in ihr Gesicht häng an ihren Lippen Rosenrot Schneeweißchen und Rosenrot Sie das Rosenrot das Mädchen im Buch das Schneeweißchen die braven Geschwister superbrav untereinander zu sich und zu der Mutter Kitschiges Rührstück Und wer ist der Bär der verwunschene Königssohn und wer der böse Zwerg Ich bin kein Königssohn Sie schaut mich schon wieder an Warum immer in der ersten Reihe Reserviert wird immer vorne Ich schlage meine Beine übereinander.
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