Das Mittagessen - an einem Tisch allein für sich - schmeckte ihr ausgezeichnet. Die Katzentische waren voll belegt und an den größeren Tischen saßen meist Familien oder gleich ganze Freundesgruppen, die offenbar die Lokalität schätzten. Geld haben die hier, wenn die jeden Sonntag zum Essen gehen können, dachte sie sich. Von einem Tisch wurde herübergeschaut und sie vermutete, dass man sie erkannt hatte. An einem zu kurzen Rock konnte es jedenfalls nicht liegen. Die Leute nickten und sie nickte zurück. Da die Szene nicht unbeobachtet blieb, begannen zwei andere Tische zu tuscheln. Nun wurde es ihr unangenehm. Sie hätte gern ihre Ruhe gehabt, wäre gern anonym geblieben. Sie konnte sich nur schwer in Autorenkollegen hineinversetzen, die erkannt werden wollen und Autogrammwünsche keinesfalls als störend erlebten. Sie machte ein angestrengtes Gesicht und konzentrierte sich voll auf ihr Essen. Glücklicherweise wurde ihre Distanzierung verstanden. Nach dem Pharmavertreter hatte sie schon beim Hereingehen geschaut, aber ihn nicht entdeckt. Sie horchte in sich hinein und dachte wieder an ihre Schwester. „Beim Essen lernt man Leute kennen!“, meinte die. Warum wollte sie das nicht? Sie konnte nicht leugnen, dass ihr das Vorlesen ihrer Bücher gefiel – einmal abgesehen von den Szenen, in denen sie sich gefühlsmäßig zu sehr mitreißen ließ. Ihr gefiel also dieser Kontakt zu den Menschen. Aber was heißt Kontakt ? Es war ja nur eine einseitige Präsentation, eine mit einer gewissen Rückmeldung zwar, doch eigentlich hatte sie alles im Griff, sie konnte bestimmen, wie weit sie etwas von sich preisgeben und wie weit sie etwas von den anderen wahrnehmen wollte. Höchstens beim Signieren musste sie mit der einen oder anderen Bemerkung oder kurzen Frage rechnen. Oder war es genau andersherum? Sie scheute weniger die Gesprächsbeiträge und Nachfragen der anderen, wenn sie mit denen zum Beispiel an einem Tisch saß, sondern ihre eigenen. Sie interessiere sich zu wenig für andere, warf man ihr gelegentlich vor, und dass das für eine Schriftstellerin doch sehr ungewöhnlich sei, denn gerade sie müsste doch Interesse an allem und jedem haben. Ach, ich kenne mich nicht einmal mit mir selbst aus, dachte sie mit einer gewissen Resignation, und es kam ihr so vor, als könnten alle im Raum ihre Gedanken hören.
Nach dem Mittagessen legte sie sich hin und schlief sofort ein. An ihrer Tür klopfte es, zuerst sanft und leise, dann ungeduldig und kalt, mit den Fingerknöcheln einer kräftigen Hand. Sie öffnete die Tür einen Spalt, doch der Mann draußen drängte sich sofort herein. Er stieß ihr die Tür gegen ihre Schulter und sie taumelte zurück. Der Mann schlug die Tür von innen wieder zu und schob die Erschrockene weiter ins Zimmer hinein, dann gab er ihr einen Stoß, so dass sie rückwärts auf das unbenutzte Bett fiel. Entsetzt hob sie ihren Kopf und schaute den Gewalttätigen an. Sie erkannte den Pharmavertreter. Sie wollte schreien, doch er hielt ihr mit grober Hand den Mund zu. Sie schnappte nach Luft - und war froh, dass sie sich endlich von diesem Alptraum befreien konnte. Sie richtete sich auf und sprang aus dem Bett. Erleichtert schnaufte sie durch: Es war wirklich nur ein Traum gewesen! Dennoch schaute sie sich auf dem Weg zu ihrem Auto vorsichtig um, ob ihr der Pharmavertreter vielleicht folgen würde. Dann fuhr sie erleichtert hinaus zu dem kleinen See, den ihr das schmale Büchlein als Ausflugstipp empfohlen hatte. Sie genoss die Ruhe und die romantische, liebliche Umgebung des touristisch noch recht unerschlossenen Kleinods. Als sie sich jedoch dem Café näherte, wurde ihr bewusst, dass die Einheimischen wochenends nicht nur gerne ins Restaurant gingen, sondern dass sie sich zu Scharen auch in den Cafés trafen. Viele waren bis zum dazugehörigen Parkplatz gefahren und hatten sich auf die Terrasse gesetzt, um den See aus angenehmer Distanz zu bewundern und den wirklich guten Kuchen zu essen, der dort angeboten wurde. Sie bekam den letzten freien Tisch, doch sie blieb nicht lange allein. Von einem der Nachbartische kam ein Mann zu ihr hin. Er trug in der einen Hand eine Aktentasche, in der anderen einen Teller, auf dem neben dem Kuchen auch eine Tasse Cappuccino hin- und herrutschte.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte er grinsend. Es war der Pharmavertreter, der sogleich, ohne eine Antwort abzuwarten, Platz nahm. „Schön, dass wir uns wiedersehen!“, sagte er. „Und noch dazu in einer so herrlichen Umgebung.“ Ihr muss wohl der Mund offengestanden haben, denn er bot nun doch einen Rückzieher an: „Oder störe ich Sie? Das will ich natürlich nicht! Die Leute an meinem Tisch waren mir nicht besonders sympathisch“, erläuterte er. „Was nicht heißt, dass ich mich im umgekehrten Fall nicht zu Ihnen hergesetzt hätte. Ach, was red ich? Ich red wieder zu viel. Ich weiß. Entschuldigung!“ Er machte aber keine Anstalten wieder aufzustehen. „Nicht, dass Sie glauben, ich würde Sie verfolgen, ich bin immer hier im Café, wenn ich hier in der Gegend bin und das bin ich oft, wie Sie sicher kombiniert haben.“
Sie nötigte sich ein kleines Lächeln ab und blieb nur im Ton höflich: „Ja bitte, nehmen Sie Platz. Es darf sich jeder hinsetzen, wo er will. Meinetwegen.“
„Störe ich Sie wirklich nicht? Ich bin manchmal aufdringlich, sagen die andern. Ist halt mein Beruf, wissen Sie.“ Dabei zeigte er auf seine Aktentasche. „Immer dabei. Muss noch was nachschauen.“
„Ich will Sie nicht aufhalten“, sagte Vera kühl.
„Ach, was! Ich bin doch froh, auch mal Gesellschaft zu haben. Ganz privat. Nicht ständig von Termin zu Termin zu hetzen und meine Sachen anzupreisen. Was machen Sie eigentlich?“
„Ich genieße ein paar Stunden die Ruhe hier.“
„Ach, Sie kommen wohl aus einer größeren Stadt. Da ist es freilich sehr schön bei uns. Ich stamme von hier, wissen Sie. Und außerdem: Das alles gehört zu meinem Einzugsgebiet.“ Dabei machte er eine ausladende Bewegung mit beiden Armen. Die erschien selbst ihm ein wenig peinlich. Er räusperte sich. „Nein, ich meinte, was Sie beruflich machen. Oder bin ich da zu neugierig? Auch so eine Berufskrankheit. Ich verwickle die Ärzte, die ich aufsuche, immer in ein privates Gespräch. Nach ihrem Beruf frage ich die Ärzte natürlich nicht.“ Der Pharmavertreter lachte. „Den weiß ich ja.“ Er machte eine Pause, um eine Antwort abzuwarten.
Sie zögerte etwas, weil sie wusste, wohin ehrliche Antworten führen können. Sie hatte keine Lust, sich mit dem Menschen über ihre Bücher oder ihre Fernseharbeit zu unterhalten. „Nun, jetzt bin ich privat hier und da rede ich nicht gerne über meinen Beruf.“
„Ach so. Muss wohl etwas Besonderes sein. Wahrscheinlich eine Psychiaterin, wenn ich sie mir so anschaue. Ich rieche Ärzte zehn Meilen gegen den Wind. Dann wollen Sie natürlich nicht von mir bequatscht werden. Keine Angst, ich bin ab jetzt auch nur noch privat hier.“ Und wieder legte er ein Grinsen auf, nippte einmal an seinem Cappuccino und stach sich ein Stück seines Kuchens ab. „Ganz privat“, bekräftigte er.
Sie drehte ihr Gesicht Richtung See und konnte es sich nicht verkneifen, mit den Augen zu rollen. Sie rutschte auch ihren Stuhl noch ein Stück in diese Richtung, lehnte sich zurück, legte ihren Kopf nach hinten und schloss die Augen. Er verstummte endlich und widmete sich weiter seiner Käsesahnetorte. Leise murmelte er: „Tut mir leid, wollte nicht stören.“ Sie erwiderte nichts.
Am Abend rief ihre Mutter an und fragte nach der Lesung des Vortags. Für ihre privaten Begegnungen interessierte sie sich scheinbar nicht. Sie ließ sich genau den Ablauf der Nachmittagslesung erzählen, war auch neugierig, ob jemand von der Presse da gewesen wäre. Eine gute Presse sei wichtig, meinte sie. Ja, das wussten beide.
3
Samstagsvorlesung: Die Frau auf der Trompete
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