Helfried Stockhofe - Kuckucksgeschwister
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Das Hotel hatte eine ausgezeichnete Küche. Vera saß trotz vieler Gäste allein am Tisch, an einem Zweiertisch, dem kleinsten Tisch im Restaurant. „Katzentisch“ nennt man ihn, wenn er bei Mehrfamilienessen der Absonderung der Kinder dient und dies den Kleinen als Privileg verkauft wird. Immerhin hatte ihr Tisch dieselbe Höhe wie die anderen Tische. Und es gab mehrere dieser Katzentische. Auch in einer eher ländlichen Gegend schien es den Trend zum Singleleben zu geben. Und wenn schon dem Single beim Essen ein Kontakt zugedacht wurde, dann kein Gruppenkontakt, allenfalls ein Kontakt zu einem zweiten Single. Es war auffallend, dass alle Paare in diesem Gastraum an Vierertischen saßen und alle Zweiertische einem einzelnen Gast vorbehalten blieben. Drei Katzentische hatte sie im Blick und an allen dreien saßen Männer. Sie war zumindest in diesem Raum die einzige Singlefrau. Ein wenig bekam sie Mitleid mit den männlichen Leidensgenossen, die an einem Samstagabend alleine zum Essen in ein Restaurant gehen mussten. Sie machten ihr nicht den Eindruck, als ob sie das genießen würden. Vielleicht waren es aber auch Männer, die hier im Hotel wohnten und, wie sie, übers Wochenende irgendwelchen beruflichen Verpflichtungen nachkamen. Nach dem Essen würden sie ihre Ehefrauen daheim anrufen und betonen, wie schwer es ihnen fiele, schon wieder woanders nächtigen zu müssen.
Sie telefonierte nach dem Essen mit ihrer Schwester Fritzi, die sich trotz der lärmenden Kinder im Hintergrund Zeit nahm. Ausführlich sprachen sie über die Lesung. Es war Vera immer peinlich, wenn sie in ihrem neuesten Buch jeweils an derselben Textstelle außer Fassung geriet. Da half es auch nicht, dass die Schwester dies als besonders authentisch pries und ihr riet, das immer beizubehalten. Fritzi fragte nach der Zusammensetzung im Publikum und machte sich lustig darüber, dass sich Vera hauptsächlich an den einzigen Mann erinnerte. Natürlich wollte sie auch wissen, wie sie untergebracht sei und was sie an den nächsten Tagen vorhätte. Sie solle es nicht zu toll treiben, riet sie ihr spaßeshalber. Vera kannte ihre Schwester und wusste, dass sie es immer gut meinte. Manchmal dachte sie: Die hat gut reden, mit einem Mann und drei Kindern! Für die Schwestern war die Familienplanung abgeschlossen, bei der einen, der jüngeren, weil drei Kinder ihr genug erschienen, bei der anderen aus Altersgründen: Vera war 15 Jahre älter als ihre Schwester Fritzi und traute sich nicht, eine Spätgebärende zu werden – ganz zu schweigen davon, dass ihr der Partner abhanden gekommen war und kein neuer bei ihr anklopfte. Außerdem hatte sie ein negatives Beispiel: ihre Mutter! Diese hatte die kleine Schwester auch erst nach 40 bekommen und das nie als Geschenk der Natur empfunden, sondern nur als große Last in ohnehin schwierigen Zeiten. Das war wohl der Grund, warum sich Vera als Ältere um die Schwester gekümmert hatte, so als wäre sie ihr eigenes Kind. Vielleicht hatte sie auch deshalb später selbst keine Kinder bekommen. Das eine Kind hatte ihr gereicht.
Das Samstagsprogramm im Fernsehen war nicht berauschend und es passte somit in paradox-konträrer Weise zum rauschenden Gerät. Sie sah sich eine Sendung nach der anderen an. Vera wollte darauf warten, dass sie der Schlaf überwältigt, um nicht zum Nachdenken zu kommen. Sie fragte sich, wann sie endlich die Trennung überwunden hätte. Doch sie verstand, dass ihr an besonders einsamen Abenden wie diesen die schmerzhaften Gedanken hochkommen mussten. Endlich schaltete sie den Fernseher aus. Daheim hätte sie noch zu einem guten Buch gegriffen, doch bei Lesereisen verzichtete sie darauf. Sie stöberte in einem auf dem Tisch liegenden Wanderführer. Wanderschuhe hatte sie freilich nicht dabei, sie war eher ein Mensch der Wörter und nicht der körperlichen Anstrengung. Doch es gab auch Ausflugsziele in der näheren Umgebung, die ihrem Schuhwerk angemessen waren. Sie nahm sich vor, an einen See zu fahren, von dem sie las, dass man ihn in einer guten Stunde umrunden könne. Außerdem lag angeblich ein gutes Café auf dem Weg!
Die Nacht war unangenehm. Das Fenster konnte sie nicht öffnen, weil sie der immer noch im Innenhof liegend Küchengeruch störte. Andauernd ging irgendeine Dusche oder eine Klospülung, doch sie war schon froh, wenigstens keine Sexgeräusche zu hören. Im Traum begegnete ihr der Zeitungsschreiber, der sie immer so durchdringend angeschaut hatte. Er starrte auf ihre nackten Beine, so als ob die wichtiger als ihr Roman wären. Als sie zwischendurch aufwachte, wusste sie nicht Realität vom Traum zu unterscheiden. Hatte er wirklich immer auf ihre Beine gestarrt? Die Schwester hatte sie gewarnt, den kurzen Rock anzuziehen, weil sie damit bei den älteren Leserinnen wohl nicht punkten könne. Den Rock solle sie sich für die Männer aufheben, wenn sie einen Stadtbummel wagen würde. Fritzi hatte nicht auf dem Schirm, dass er auch für einen Journalisten oder Kritiker prickelnd sein könnte. Manchmal wurden Vera die Ratschläge der Schwester aber zu viel. Immer dasselbe Gerede. Es ist für eine Nahestehende schwer, der Verlassenen beim Trauern zuzusehen. Sie war aber noch nicht bereit, sich auf einen anderen Mann einzulassen. Wie soll man ein paar Monate nach einer Trennung schon bereit sein für die nächste Katastrophe? Bei der Wahl des kurzen Rocks hatte Vera nicht mehr an die Warnung der Schwester gedacht. Der Rock gefiel ihr einfach – und dass er kurz war, störte sie nicht. Das Verkaufsergebnis hatte er jedenfalls nicht negativ beeinflusst. Und dass der seltsame Schreiberling keinen Eintrag in das Buch wollte, hing wohl nicht mit der Rocklänge zusammen. Sicher war er sich zu fein, zu stolz für eine banale Signatur.
In der Nacht war nicht viel Schlaf zusammengekommen. Die Dusche tat gut und auf ein besonderes Äußeres wollte Vera an einem freien Tag keinen Wert legen. Ungeschminkt und ohne Brille würde sie sicher auch unerkannt bleiben, selbst wenn sie neben einem ihrer Plakate stünde, die sie an manchen Stellen der Stadt gesehen hatte. Sie legte privat keinen Wert darauf, als bekannte Schriftstellerin angesprochen zu werden, egal, was ihr Verlag dazu meinte. Im Frühstücksraum waren alle Tische schon mit mindestens einer Person besetzt. Alleine frühstücken war also nicht drin. Sie erkannte ihre Leidensgenossen der Katzentische wieder und setzte sich zu einem dazu. Er war der Vertreter einer Arzneimittelfirma, wie er ihr sehr schnell mitteilte, ungefragt und ohne nach ihrem Beruf zu fragen. Sie hätte gelogen, denn dass sie manchmal in der Redaktion eines Fernsehsenders arbeitete und auch dabei gelegentlich im Fernsehen auftrat, wollte sie ebenso wenig preisgeben wie ihre Erfolge als Schriftstellerin. Doch ihr Gegenüber interessierte sich anscheinend ohnehin nicht für ihren Beruf. Ihm lag eher daran, seine Ortskenntnisse auszuspielen und sich ihr als Fremden- oder Wanderführer anzubieten. Die Schwester würde frohlocken! Vera zögerte, vertröstete ihn, sprach davon, dass sie nicht so gut zu Fuß sei, doch er schob ihr eine Visitenkarte mit seinen Telefonnummern hin. Er sei immer erreichbar und würde sich freuen. So alleine mache alles doch keinen Spaß. Da nickte sie und sagte: „Mal sehen.“ Das Kärtchen warf sie ungelesen in ihre Tasche.
Natürlich ging sie alleine weg. Nach dem Frühstück zog es sie an den Fluss zu einem Spaziergang. Die ersten Meter entfernte sie sich schnell vom Hotel, dann ließ sie sich Zeit und genoss die schon recht angenehme Wärme der Sonne und das frühsommerliche Gezwitscher der Vögel. Erstaunlicherweise war kaum einer unterwegs, auch keine „Eine“ … Selten, dass sie einmal über ihr inneres Gender-Engagement schmunzeln musste ... Als sie die Glocken der Stadtkirchen hörte, vermutete sie, dass sie in einem besonders frommen Landstrich gelandet war, wo sich viele Bürger an einem Sonntagmorgen in den Gottesdienst begeben – beziehungsweise sich nicht auf die Straße trauen, um nicht als unfromm angesehen zu werden. Der junge Angler, den sie am Flussufer aufschreckte und der durchaus zu einem Schwätzchen bereit war, lachte und meinte, die Leute seien müde von ihrer Samstagsarbeit und schliefen sonntags immer sehr lange. Sie wusste nicht, ob sie das ernst nehmen sollte oder ob er sich einen Scherz mit der Fremden erlaubte. Sie lächelte freundlich und wünschte ihm „Petri Heil“. Nachdem sie schon ein paar Meter entfernt war, entdeckte sie ein idyllisches Fotomotiv und ging noch einmal zum Angler zurück. Sie fragte, ob er etwas dagegen hätte, wenn er auf ihrem Foto abgebildet würde. Er grinste nur. Sie erkannte darin eine Zustimmung und lichtete den Fluss mit dem jungen Mann im Vordergrund ab. Ihrer Schwester würde sie weis machen, dass sie ein angeregtes Gespräch mit ihm geführt hätte – was die ihr sowieso nicht glauben würde. Sie schickte ihr das Foto daher mit einer glaubwürdigeren Bemerkung. Da sich der Himmel etwas zuzog und sie nicht die Wetterkapriolen in dieser Gegend kannte, drehte sie um und ging Richtung Hotel zurück. Da dachte sie, einen Mann zu bemerken, der ihr nachgegangen war und sich ebenfalls schnell umwendete und Richtung Stadtmitte zurückeilte.
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