Das waren so etwa die gewöhnlichen Unarten des Schülers Servadac und seiner ausgelassenen Gesellschaft.
Derlei Possenstreiche ergötzten aber die Schüler um so mehr, als der betreffende Professor ein Isegrimm erster Sorte war. Da gab es denn manchen Ausbruch von Zorn und Wuth, der die »alten Häuser« des Gymnasiums weidlich amüsirte.
Zwei Jahre nach Hector Servadac's Abgang vom Gymnasium verließ auch Palmyrin Rosette, der in sich mehr den Kosmographen als den Physiker fühlte, die Laufbahn als Lehrer, um sich ganz und gar den astronomischen Studien zu widmen. Er suchte eine Stellung bei der Sternwarte zu erhalten. Bei seinem unter den Gelehrten des Observatoriums bekannten griesgrämigen Charakter aber blieben ihm die Pforten desselben verschlossen. Da er einiges Vermögen besaß, betrieb er nun, ohne officiellen Titel, Astronomie auf eigene Faust und machte sich ein besonderes Vergnügen daraus, die Arbeiten anderer Astronomen recht bitter zu kritisiren. Man verdankte ihm übrigens die Entdeckung der letzten drei teleskopischen Planeten und die Berechnung der Elemente des 123. Kometen des Katalogs. Professor Rosette und sein Schüler Servadac hatten sich aber, wie gesagt, vor jenem zufälligen Zusammentreffen auf dem Eilande Formentera niemals wieder getroffen. Nach Verlauf von zwölf Jahren durfte es also nicht Wunder nehmen, wenn Kapitän Servadac seinen alten Lehrer Rosette, vorzüglich bei dem Zustande, in welchem er ihn fand, nicht sofort wieder erkannte.
Als Ben-Zouf und Negrete den Gelehrten aus den Pelzen gewickelt hatten, die ihn vom Kopf bis zu den Füßen umhüllten, sahen sie sich gegenüber einem kleinen Manne von fünf Fuß zwei Zoll Länge, der jetzt offenbar abgemagert war, es aber auch schon von Natur zu sein schien, mit einem jener schön polirten Schädel, welche dem dicken Ende eines Straußeneies so auffallend ähneln, ohne jeden Bart, wenn man von dem Anflug eines solchen absah, der seit acht Tagen nicht rasirt sein mochte, mit langer, scharf gebogener Nase, auf der eine gewaltige Brille saß, die ja bei gewissen kurzsichtigen Personen einen integrirenden Bestandtheil des Individuums auszumachen scheint.
Unzweifelhaft war dieses Männchen sehr nervöser Natur. Man hätte ihn wohl mit einem Ruhmkorff'schen Inductor vergleichen können, dessen Drahtwindungen einen Nerven von mehreren Hectometern Länge darstellten, und in dem der Nervenstrom die Elektricität, und zwar in derselben Intensität, ersetzte. Mit einem Worte, die »Nervosität« – man verzeihe dieses hier etwas kühn gebrauchte Wort – war in dem Rosette'schen Inductor mit ebenso hoher Spannung aufgespeichert, wie die Elektricität in dem Ruhmkorff'schen.
So nervös der Professor auch sein mochte, so lag darin kein Grund, ihn ohneweiters aus dem Leben entwischen zu lassen. In einer Welt, welche nur fünfunddreißig Bewohner zählt, ist das Leben des Sechsunddreißigsten nicht zu verachten. Als der Scheintodte zum Theil entkleidet war, konnte man sich überzeugen, daß sein Herz, wenn auch nur schwach, doch jedenfalls noch schlug. Voraussichtlich mußte er also, bei der peinlichen Sorgfalt, welche ihm gewidmet ward, auch wieder zum Bewußtsein kommen. Ben-Zouf knetete und frottirte den trockenen Körper wie eine alte Weinrebe, so daß man fürchten mußte, er werde Feuer fangen, und trällerte dazu, als putze er seinen Säbel zu einer Parade, den bekannten Refrain:
»Dem Tripel nur, Du Sohn des Ruhms,
Verdankt Dein Stahl den schönen Glanz.«
Endlich, nach zwanzig Minuten des unablässigen Reibens, entrang sich ein Seufzer den Lippen des Halbtodten, dem bald ein zweiter und ein dritter nachfolgten. Seine Augen öffneten sich ein wenig, schlossen sich wieder und öffneten sich dann weiter, offenbar völlig unklar über die Verhältnisse, in denen er sich wieder fand. Der bisher hermetisch geschlossene Mund ließ jetzt eine leichte Spalte zwischen den Lippen sehen. Er murmelte einige Worte, welche jedoch Niemand verstehen konnte. Palmyrin Rosette streckte die rechte Hand aus und erhob sie nach der Stirn, als suche er etwas, was da nicht zu finden war. Dann verzerrten sich seine Züge und das Gesicht röthete sich, als könnte er nur gleichzeitig mit einem Zornausbruch in's Leben zurückkehren, und er rief laut:
»Meine Brille! Wo ist meine Brille?«
Ben-Zouf suchte die verlangte Brille. Er fand sie glücklich wieder. Das monumentale Gestell war mit wahrhaft teleskopischen Gläsern ausgestattet. Während des Massirens war jene von den Schläfen abgefallen, auf welche sie doch fest angeschraubt schien, als verlief eine Achse derselben von einem Ohre zum anderen durch den Schädel des Gelehrten. Jetzt ward das Monstrum wieder auf der Adlernase, ihrem gewöhnlichen Sitze, angebracht, worauf noch ein neuer Seufzer, der aber in ein »Brumm, brumm« von guter Vorbedeutung ausging, nachfolgte.
Kapitän Servadac hatte sich über das Antlitz Palmyrin Rosette's geneigt, den er mit gespannter Aufmerksamkeit ansah. Gerade jetzt öffnete dieser die Augen vollständig. Ein lebhafter Blick schoß durch die dicken Linsen der Brille und mit höchst ärgerlicher Stimme rief der Gerettete:
»Schüler Servadac, fünfhundert Zeilen Strafarbeit bis morgen!«
Das waren die Worte, mit denen Palmyrin Rosette den Kapitän Servadac begrüßte.
Gerade durch diese Sonderbarkeit des Anfangs einer Unterhaltung, welche offenbar auf eine plötzliche Erinnerung an die früheren Streiche Hector Servadaes zurückzuführen war, erkannte auch dieser, obwohl er buchstäblich zu träumen glaubte, seinen alten Lehrer der Physik vom Gymnasium Charlemagne wieder.
»Herr Palmyrin Rosette! rief er. Mein alter Lehrer hier mit Fleisch und Bein!
– Vorläufig mehr mit dem letzteren, bemerkte Ben-Zouf.
– Alle Wetter, das nenne ich ein eigenthümliches Zusammentreffen!« fügte Kapitän Servadac erstaunt hinzu.
Inzwischen war Palmyrin Rosette auf's Neue in eine Art Schlummer versunken, den man für passend hielt, zu respectiren.
»Beruhigen Sie sich, mein Kapitän, sagte Ben-Zouf. Er wird leben, ich stehe Ihnen dafür. Diese Leutchen bestehen ja fast nur aus Nerven. Ich habe noch weit ausgetrocknetere gesehen, welche noch viel weiter herkamen.
– Und woher denn, Ben-Zouf?
– Aus Egypten z.B., mein Kapitän, in einem hübschen eisenbeschlagenen Kasten.
– Das waren wohl Mumien, Dummkopf!
– Wie Sie sagen, Herr Kapitän!«
Da der Professor tief zu schlummern schien, schaffte man ihn nun in ein warmes Bett und mußte die Lösung der brennenden Fragen bezüglich seines Kometen wohl oder übel bis nach dem Erwachen des Gelehrten vertagen.
Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop – die Repräsentanten der Akademie der Wissenschaften unserer kleinen Kolonie – konnten sich, statt geduldig bis zum anderen Morgen zu warten, nicht enthalten, die allerunwahrscheinlichsten Hypothesen aufzustellen. Welcher Komet war es im Grunde, dem Palmyrin Rosette den Namen »Gallia« gegeben hatte? Bezog sich dieser Name nur auf das von der Erdkugel abgesprengte Stück? Galten jene in den einzelnen Notizen gefundenen Berechnungen der Entfernungen und Geschwindigkeiten nur für den Kometen Gallia oder für das neue Sphäroïd, das jetzt Hector Servadac und seine fünfunddreißig Gefährten durch die Sonnenwelt trug? Sollten sich diese Ueberlebenden von der alten Et de als Bewohner jener Gallia ansehen oder nicht?
So lauteten etwa die Hauptfragen. Wer konnte aber dafür stehen, ob Alles, was sie mühsam ausgeklügelt, nicht jämmerlich zusammenfiel, wenn sich ihre Voraussetzung, sich auf einem von der Erdkugel abgerissenen Bruchstück zu befinden, unerwarteter Weise nicht bestätigen sollte?
»Nun, zerbrechen wir uns den Kopf nicht weiter, rief endlich Hector Servadac, Professor Rosette ist hier, um uns das Richtige zu sagen, und er wird es daran nicht fehlen lassen.«
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