1 ...7 8 9 11 12 13 ...27 Als Loyd die Nachricht zu Ende gehört hatte, spurtete er sofort los. Er stürmte an seiner Schwester vorbei, die ihm: »Hey, was ist los? War die Lichtmail tatsächlich für dich?«, nachrief, doch Loyd war bereits die alten, knorrigen Holzstufen nach oben gepoltert und raste den hölzernen Korridor bis zum Dachsteig entlang. Am Ende des Ganges, beim Übergang zur Eistreppe, entdeckte er seine Eltern.
»Morgen, Loyd«, grüßte ihn sein Vater amüsiert.
Er war ein kleiner, hagerer Mann, der seine allmählich ergrauenden Haare wie Loyd ganz kurz trug. Zudem hatte er eine knollige Nase und war, trotz seiner schmächtigen Statur, mit einer tiefen, fülligen Stimme gesegnet.
»Sorry Paps, keine Zeit. Ich habe eine eilige Nachricht von der Uni erhalten und muss sofort los. Es scheint um das Geschwärzte Zentrum zu gehen, und eine Probenexpedition ist, glaube ich, auch geplant. Was ist hier eigentlich passiert?«
»Schneesturz«, meldete sich Loyds Mutter mit verschränkten Armen. Sie war so groß wie Loyd und hatte langes, dunkelbraunes Haar.
»Das haben wir noch nie erlebt; so viel Schnee in einer Nacht. Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wie viel da oben noch auf uns wartet. Der reinste Albtraum.«
»Arika, Liebes, wir kriegen das schon wieder hin. Stell dir nur vor, wie schwer unsere Urururgroßeltern es hatten, als das Dorf das erste Mal im Schnee begraben wurde«, sagte Toss, Loyds Vater, mit unterdrückter Freude.
Toss war ein Unwetterfanatiker und immer aus dem Häuschen, wenn das Wetter sich in irgendeiner Weise »wüst« verhielt. Dazu kam, dass er bei der Versammlung einer jener unerschrockenen Dorfbewohner gewesen war, die den Wettstreit gegen die Natur bei einer Tasse Holunderwein angenommen hatten.
»Verdammt, ich würde euch ja sofort helfen, aber ich muss dringend los!«, sagte Loyd mit sich überschlagender Stimme und biss sich dabei auf die Unterlippe.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du mit der Rutsche zurzeit überhaupt ins Tal runterkommst. Die Talstation könnte auch zugedeckt sein«, bemerkte Toss nachdenklich.
»Was hast du eben gesagt?«, entfuhr es Loyds Mutter plötzlich, als hätte sie erst jetzt realisiert, was ihr Sohn eben von sich gegeben hatte. »Du gehst auf eine Abenteuerreise? Heute ? Kommt gar nicht in Frage!«
»Aber –«, warf Loyd schnell ein, doch seine Mutter schnitt ihm das Wort ab.
»Erstens: Wir brauchen dich hier in deinen Ferien. Weißt du noch? Die Gemüseernte erledigt sich nicht von selbst, und mit unseren alten Knochen schaffen wir das auf die Dauer nicht mehr allein.«
»Ja, aber –«
»Wer hat behauptet, er würde die Kosten für das Zimmer im Studentenheim mit vollem Einsatz zurückzahlen? Dieser Doktor Ankerbelly oder wie dein hochverehrter Lehrer heißt, wird während den Semesterferien auch ohne dich auskommen. Es gibt schließlich genug Explorationsstudenten.«
»Nun ja, aber –«
»Und zweitens ist es zurzeit einfach zu gefährlich, überhaupt irgendwo hinzugehen, solange wir nicht wissen, wie viel Neuschnee der Schneesturz gebracht hat.«
Loyds Mutter sah ihn mit strenger Miene an. Einen Moment lang quoll eine Welle von Ärger in Loyd auf, dann schlug er mit der Faust gegen die Holzwand neben der Dachtreppe und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Verdammt. Na gut. Ja – ich hab’s versprochen. Aber wenn die Welt wegen euch untergeht, ist es nicht meine Schuld!« Er funkelte seine Eltern mürrisch an. »Ich gehe aber, sobald der Schnee geschmolzen und die Ernte erledigt ist, ok? Nun, lasst mich mal durch.«
Er schob seine Eltern beiseite und begab sich vorsichtig den Dachabsatz hinauf, bis er am Fuß der verstopften Eistreppe ankam. Er steckte die Hand in seine Hosentasche, zog einen kleinen schwarzen Beutel heraus, schüttelte sich einen hell leuchtenden Kristall auf die Hand und strich sich diesen über die Handfläche seiner Linken. Sofort begann heißer Dampf, von seinen Händen aufzusteigen. Diese setzte er an die blauglänzende Schneewand, wo bereits seine Eltern versucht hatten, die Stufen auf traditionelle Weise, per Schaufel, wieder freizumachen und begann mit der Schneeschmelze.
Überall im Dorf waren die Leute mit Schmelzen beschäftigt. Man traf sich auf mittlerem Wege in den Eispassagen oder auf dem Gemeindeplatz. Man lachte, man argwöhnte, und doch hörte man bis zum Abend von nirgends über den schwer erhofften Durchbruch. Auch am nächsten Tag und am Tag darauf gab es keine Erfolgsbekundungen. Dafür versammelten sich die Einwohner im Rathaus und verteilten heiße Suppe aus dem Tal, die per unterirdischer Eisrutsche heraufgebracht worden war.
Von der Zuversicht, dass man es in den kommenden Tagen endlich nach oben schaffen würde, war nicht mehr viel zu spüren. Skepsis breitete sich unter den Bürgern aus und das Thema, das Dorf doch lieber durch die Eisrutsche zu evakuieren, schlich sich langsam wieder in die nicht mehr ganz so gesprächigen Runden.
Dann geschah etwas, mit dem nicht einmal der Dorfälteste gerechnet hatte. Durch das Dauerschmelzen des Eises und Schnees, hatte sich am Grund der Siedlung ungewöhnlich viel Wasser angesammelt. Auf dem gesamten Gelände unterhalb des Gletschers drohte eine Überschwemmung, während über ihnen die Ein- und Ausgänge der Frierhütten nach wie vor verstopft waren. Der Dorfälteste ordnete deshalb am Abend des zweiten Tages nach dem Unwetter an, mit dem Schmelzen aufzuhören. Zu diesem Zeitpunkt war das Erdgeschoß der meisten Häuser bereits mit eisigem, knöcheltiefem Wasser durchflutet. Manche Familien brachten es zustande, das Wasser mit Altem Sonnenlicht, wie es Loyd besaß, von ihren Hauswänden abzuweisen. Doch trotz sofort eingeleiteter Maßnahmen stieg der Wasserpegel weiter an, bis der Dorfälteste am Ende des dritten Tages nach dem Schneesturz alle Familienoberhäupter zu einer erneuten Versammlung im Rathaus einberief.
Am Abend vor der Zusammenkunft, als Loyd, Keli und deren Eltern in der warmen Stube im ersten Stock ihrer großen Frierhütte saßen und versuchten, ihren alltäglichen Beschäftigungen nachzugehen, nahm das Leben der Familie Lanthorn einen unvorhergesehenen Lauf. Ein unheimliches Ächzen und Knarzen war von unter dem Fußboden, sowie über der Stubendecke zu vernehmen. Das Geräusch schien nicht aus unmittelbarer Nähe zu kommen, aber es ließ erahnen, dass es die umliegenden Gletscherschichten waren, die sich aneinander rieben. Selbst für die Einwohner Hildenberges, die an Geräusche aus dem Eis gewöhnt waren, stellten diese keine üblichen Laute dar. Loyd, der am Esszimmertisch über drei Lehrbüchern zugleich gebrütet hatte, hob den Kopf bei dem Lärm. Seine scharfen Augen fixierten zuerst die Holzdecke des Zimmers, an der ein warmes, rotes Licht brannte, dann sank sein Blick auf seine Mutter, die zeitgleich ihre Augen von der Decke abwandte, während ihr Mund halb offenstand. Loyds Vater, der gerade dabei gewesen war, das abgewaschene Geschirr abzutrocknen, fand als erster zu seiner tiefen Stimme zurück, die nun sehr ernst klang: »Das hört sich gar nicht gut an. Ich glaube, das alte blaue Eis steht durch den vielen Neuschnee ziemlich unter Druck. Bin mir nicht sicher, ob es nicht besser wäre, zur Talstation hinunterzurutschen, die Bahn nach Lichterloh zu nehmen und nicht auf die morgige Versammlung zu warten.«
Arika war ans Fenster des Esszimmers getreten und spähte in die nachtblaue Eiswand hinein, die von den beleuchteten Fenstern der umliegenden Frierhütten erhellt wurde. Keli und Loyd standen beide auf und taten es ihr gleich. Das Poltern wurde lauter, dann wieder leiser – dann plötzlich fing der Boden an zu beben und das Ächzen schwoll zu einem ohrenbetäubenden Donnern an. Loyds Vater schob den Teller, den er eben abgetrocknet hatte, in den hölzernen Geschirrschrank neben dem Herd und rief, mit raschen Schritten zur Esszimmertür eilend: »Kommt, wir packen unsere Sachen. Wir haben keine Ahnung, was da oben vor sich geht. Es ist besser, wenn wir sofort aufbrechen. Ich schick eine Nachricht zu Onkel Nonpe. Wir holen noch unsere Eltern, dann brechen wir sofort auf. Los jetzt!«
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