Ich laufe also dem Wagen nach und spreche dabei das Gebet der Schmoneh Essre (Achtzehn Segenssprüche)17 recht laut mit der richtigen Melodie, wie man es in der Schule – sie sei vom Walde wohl unterschieden! – vor dem Vorbeterpult singt: »Er versorgt alle Lebewesen«, singe ich, »mit Gnade und bewährt seine Treue den im Staube Liegenden« und sogar denen, die unter der Erde liegen und aus Lehm Beugel backen. Ach, denke ich mir, liege ich nicht tief in der Erde? Ach, geht es mir schlecht! Und nicht wie jenen Leuten, den Reichen von Jehupez18, die den ganzen Sommer in Bojberik sitzen, gut essen und trinken, und in allem Guten baden. Ach, du Schöpfer der Welt, womit habe ich das verdient? Ich bin doch der gleiche Mensch wie die anderen Juden! Gott, habe doch ein Einsehen! »Sieh unser Elend«, singe ich weiter, »schau nur, wie wir uns abplagen, und nimm dich der armen Menschen an«, denn wer soll sich ihrer annehmen, wenn nicht du? »Heile uns, dass wir genesen, und schicke uns nur die Arznei, denn die Wunden haben wir schon von selbst … Segne uns dieses Jahr mit allen Arten seines Ertrages«, das heißt mit Korn und Weizen und Gerste, obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, was ich das brauche! Und was geht es mein Pferdchen an – es sei von mir wohl unterschieden! –, ob der Hafer teuer oder billig wird? So oder so – es bekommt doch niemals Hafer zu sehen! Aber Gott darf man mit solchen Fragen nicht kommen; am allerwenigsten darf es der Jude. Er muß alles als gut hinnehmen und zu allem sagen: »Auch dies ist zu meinem Besten, denn so will es wohl Gott. Und den Lästerern«, singe ich weiter, »sei keine Hoffnung, denn Gott zerbricht die Feinde und vernichtet die Übermütigen … Die Aristokraten, die da sagen, es gäbe keinen Gott auf der Welt, werden schön aussehen, wenn sie ins Jenseits kommen; dort werden sie es mit Zinseszinsen auskosten, denn Gott ist ein guter Zahler und läßt mit sich nicht spaßen. Man darf ihn nur anflehen und zu ihm schreien: ›Barmherziger Vater, höre unsere Stimmen, schone uns und erbarme dich unser‹, erbarme dich meines Weibes und meiner Kinder, denn sie haben, nebbich19, Hunger. Bewillige deinem Volk Israel«, singe ich, »wie einst den Tempel, und die Priester und die Leviten ...« Und plötzlich – halt! Das Pferdchen ist stehen geblieben.
Ich spreche schnell die Schmoneh Essre (Achtzehn Segenssprüche)20 zu Ende, hebe die Augen und sehe: zwei Gestalten kommen mir aus dem Walde entgegen. Sie sehen merkwürdig aus und sind gar sonderbar gekleidet. Mein erster Gedanke ist: ›Räuber!‹ Ich sage mir aber sofort: »Pfui, Tewje, bist du ein Narr! Du fährst schon seit so vielen Jahren im Walde herum, bei Tag und bei Nacht, und hast doch noch niemals einen Räuber gesehen. Was fallen dir plötzlich heute Räuber ein? – Hui!« sage ich zum Pferdchen und ziehe ihm ein paar über, als ob das Ganze mich gar nicht anginge.
»Reb Jude! Hört doch, Reb Vetter!« schreit zu mir das eine der beiden Geschöpfe und winkt mir mit einem Tuche. »Bleibt doch einen Augenblick stehen, wartet ein Weilchen! Rennt nicht davon! Es wird Euch, Gott bewahre, gar nichts geschehen!«
›Aha! Ein böser Geist!‹ denke ich mir und sage gleich darauf zu mir selbst: »Rindvieh in Gestalt eines Pferdes! Was fallen dir plötzlich böse Geister und Teufel ein?« Ich lasse mein Pferdchen halten und sehe mir die beiden Geschöpfe genauer an: es sind zwei Frauenzimmer. Die eine, die ältere, hat ein seidenes Tuch auf dem Kopfe, die andere ist jünger und trägt eine Perücke.21
Beide haben feuerrote Gesichter und sind verschwitzt.
»Guten Abend! Willkommen!« sage ich zu ihnen sehr laut und tue so, als ob es mir lustig zumute wäre. »Was ist euer Begehr? Wenn ihr etwas kaufen wollt, so werdet ihr bei mir nichts finden, höchstens Bauchweh, auf die Köpfe meiner Feinde sei es gesagt! Oder eine volle Woche Herzkrämpfe, oder etwas Kopfweh, trockene Schmerzen, nasse Plagen, heisere Wehen?« … »Beruhigt Euch!« sagen sie mir. »Sieh nur, wie er sich ins Zeug legt! Wenn man so einem Juden auch nur ein einziges Wort sagt, ist man seines Lebens nicht mehr sicher! Wir wollen«, sagen sie, »gar nichts kaufen. Wir wollen Euch nur fragen, ob Ihr uns vielleicht sagen könnt, wo der Weg nach Bojberik ist?«
»Nach Bojberik?« sage ich und fange zu lachen an. »Es ist genau so«, sage ich, »wie wenn ihr mich fragen würdet, ob ich weiß, dass ich Tewje heiße.«
»So?« sagen sie. »Ihr heißt Tewje? Guten Abend, Reb Tewje! Wir verstehen gar nicht«, sagen sie, »warum Ihr lacht! Wir sind hier fremd, wir sind aus Jehupez22 und wohnen in Bojberik in der Sommerfrische. Wir sind«, sagen sie, »für einen Augenblick ausgegangen, um ein wenig spazieren zu gehen, und irren jetzt in diesem Wald seit heute früh herum. Wir haben uns verirrt und können den Weg nicht finden. Da hörten wir«, sagen sie, »dass jemand im Walde singt, und wir glaubten anfangs, es sei, Gott behüte, ein Räuber. Als wir aber«, sagen sie, »sahen, dass Ihr ein Jude seid, wurde es uns etwas leichter zumute. Versteht Ihr es jetzt?«
»Ha-ha-ha! Ein schöner Räuber!« sage ich. »Habt ihr einmal die Geschichte vom jüdischen Räuber gehört«, sage ich, »der einen Wanderer überfiel und ihn um eine Prise Tabak bat? Wenn ihr wollt«, sage ich, »kann ich euch die Geschichte erzählen.«
»Die Geschichte«, sagen sie, »wollen wir lieber ein andermal hören. Jetzt zeigt uns lieber den Weg nach Bojberik!«
»Nach Bojberik?« sage ich. »Herr Gott! Das ist ja der richtige Weg nach Bojberik! Ihr mögt wollen oder nicht«, sage ich, »ihr müßt auf diesem Wege nach Bojberik kommen!«
»Warum habt Ihr bisher geschwiegen?«
»Sollte ich denn schreien?«
»Wenn es sich so verhält«, sagen sie, »so wißt Ihr vielleicht auch, wie weit es noch nach Bojberik ist?«
»Nach Bojberik«, sage ich, »ist es nicht weit, es sind nur einige Werst. Das heißt«, sage ich, »es sind fünf bis sechs Werst, oder sieben, oder vielleicht auch volle acht.«
»Acht Werst!« schrien beide Weiber zugleich. Sie rangen die Hände und fingen beinahe zu weinen an. »Herr Gott, was redet Ihr? Wißt Ihr auch, was Ihr redet? Es ist doch keine Kleinigkeit – acht Werst!«
»Nun«, sage ich, »was soll ich dagegen machen? Wenn das von mir abhinge, hätte ich den Weg ein wenig kürzer gemacht. Der Mensch«, sage ich, »muß auf der Welt alles ausprobieren. Es kommt vor«, sage ich, »dass man sich durch den Schmutz bergauf schleppen muß, und es ist kurz vor Sabbatanbruch, der Regen peitscht ins Gesicht, die Hände zittern, das Herz ist matt, und da bricht auch noch eine Achse ...«
»Ihr redet wie ein Verrückter«, sagen sie. »Ihr seid wohl gar nicht recht bei Sinnen! Was erzählt Ihr uns für lange Geschichten, Märchen aus Tausendundeiner Nacht? Wir haben keine Kraft mehr, die Beine zu bewegen, wir haben heute den ganzen Tag außer einem Glas Kaffee und einer Buttersemmel nichts im Munde gehabt, und da kommt Ihr und erzählt uns solche Geschichten!«
»Wenn es sich so verhält«, sage ich, »so ist es was anderes. Wie sagt man doch: Kein Tanz geht vor dem Essen. Ich weiß ganz gut, wie der Hunger schmeckt, und ihr braucht es mir nicht zu erklären. Es ist wohl möglich«, sage ich, »dass ich Kaffee und Buttersemmel seit einem Jahre nicht mehr gesehen habe ...« Und wie ich das sage, sehe ich vor mir ein Glas heißen Kaffee mit Milch, und eine frische Buttersemmel, und noch andere gute Sachen … »Unglücksmensch!« sage ich zu mir, »bist du denn mit Kaffee und Buttersemmeln großgezogen worden? Bist du krank, ein Stück Schwarzbrot mit Hering zu essen?« Doch der böse Trieb, nicht gedacht soll seiner werden, hält mir wie zum Trotz den Kaffee und die Buttersemmel vor die Nase, und ich spüre den Geruch vom Kaffee und den Geschmack der Buttersemmel, der frischen, wohlschmeckenden Buttersemmel, die die Seele erquickt!
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