„Wie, ein weiteres Opfer? Eine andere Leiche?“
„Eine Verletzte, Herr Kommissar, keine Tote.“
„Setzen Sie sich doch Herr Doktor! Haben Sie mit der Zeugin oder der Verletzten sprechen können?“
„Ja, danke. Also nicht direkt.“
„Nicht direkt?“, wiederholte Krüger. „Was darf ich mir darunter vorstellen, Herr Doktor?“
Krüger konnte seine Skepsis kaum verbergen.
„Ich wurde zu einer Beurteilung in die Uniklinik gerufen“, begann Holoch. „Dabei ist mir eine Verbrennung aufgefallen. Diese Brandwunde stammt mit Sicherheit von der gleichen Rauchpetarde, die wir im Wagen von Hahnloser gefunden haben. Ich verfüge zwar erst über die vorläufigen Ergebnisse des Labors. Aber die Umstände sind klar. Frau Kruse war vor Ort, als die Petarde abbrannte!“
„Frau Kruse“, wiederholte Krüger. „Sie verweigert die Aussage?“
„Nein, wieso?“
„Sie haben nicht direkt mit ihr gesprochen, sagten Sie zu Anfang, Herr Doktor.“
„Hatte ich nicht erwähnt, dass die Patientin im Koma liegt?“
„Nein, hatten Sie nicht, Herr Doktor“, erklärte Krüger freundlich.
Inzwischen hatte sich Michélle eingefunden und hörte, im Türrahmen stehend, zu.
Holoch hatte sie noch nicht bemerkt. „Leider sind ihre Aussichten nicht besonders erfreulich“, fuhr er fort. „Erstens ob sie überhaupt wieder aufwacht und zweitens in welchem Zustand. Sie könnte durch die schwere Blutvergiftung Hirnschädigungen erlitten haben, und die Hand wird man ihr wahrscheinlich amputieren müssen.“
„Das ist ja schrecklich!“, meldete sich Michélle. „Die arme Frau. Ohne Hand ist man nur ein halber Mensch.“
„Guten Morgen, Madame Guerin.“ Holoch nickte ihr aufmunternd zu. „Die Amputation ist wahrscheinlich das kleinste aller Übel, die Frau Kruse drohen, Madame“, stellte er fest. „Bedauerlicherweise!“
„Können Sie uns noch etwas genauer erläutern, wie Sie zu Ihren Schlussfolgerungen gelangt sind, Herr Doktor“, bat Krüger.
„Aber gern. Da war gleich die Erkenntnis, dass eine solche Verbrennung kaum eine übliche Ursache haben kann. Ich zog deshalb mehrere Möglichkeiten in Betracht …“
***
Krüger machte sich mit Michélle und Erwin Rohr auf den Weg zu der Adresse von Frau Kruse, die Holoch schließlich auch noch herausgerückt hatte. Natürlich erst nach Beendigung seines Vortrages. Den Doktor hatte er mit Nachdruck gebeten, sich zur Verfügung zu halten, aber nicht direkt mitzukommen.
Dass es sich um eine Bestattungsfirma handelte, stellten Krüger und seine Begleiter erst fest, als sie den Ort erreicht hatten. Schon fast zu idyllisch gelegen, angesichts der Nähe zur Stadt. Ein großzügig angelegter, jedoch beinahe leerer Parkplatz stand zur Verfügung. Begrenzt durch mit Sorgfalt aufgeschichtete Bruchsteinmäuerchen. Umgeben von viel Grün, aus dichten Hecken und einigen hohen Bäumen, die im Sommer Schatten spendeten. Die hufeisenförmig auf drei Seiten um den Parkplatz angelegten Gebäude wirkten zwar nicht besonders modern. Aber immerhin herrschte überall peinliche Ordnung. Auch in den Ecken, die nicht gleich jedem ins Auge fielen.
Der Ort strahlte eine ungewöhnlich intensive Ruhe aus. Man bemühte sich ganz automatisch, nicht laut zu sprechen, fiel Krüger auf. Obwohl weder Grabsteine noch sakrale Bauwerke auf die Grundlage des Geschäftes hinwiesen. Die unauffällig sachlich angebrachte Schrift, Krematorium, nahm man erst auf den zweiten Blick wahr. Offenbar einer dieser Kraftorte, die man nicht genau erklären kann, ging dem Kommissar durch den Kopf.
Es war auch nicht völlig still. Wohldosierte, regelmäßige Hammerschläge, wie man sie beispielsweise von einem Bildhauer erwarten würde, ließen sich erahnen. Offenbar entstand gerade ein Kunstwerk aus Stein oder einem anderen harten Material hinter den großen Fenstern, die das Tageslicht widerspiegelten.
Krüger ging voraus zum Haupteingang, Michélle blieb beim Wagen und Rohr näherte sich dem Gebäude, aus dem die Schläge drangen. Ein Atelier oder eine Werkstatt, je nach Interpretation. Auf jeden Fall wurde hier gearbeitet.
Nachdem Krüger geklingelt hatte, verstummte der Hammer. Es schien eine direkte Verbindung zu geben.
Ein Mann um die fünfzig mit gepflegtem, aber staubigem Bart öffnete die Tür. „Grüß Gott“, begann er. „Benötigen Sie einen Bestatter oder besuchen Sie mich aus anderen Gründen?“
Krüger wehrte gleich ab. „Nein, nein, wir sind nicht in Trauer. Wir suchen Frau Kruse. Wohnt die hier?“
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Ja und nein. Sie wohnt hier. Aber im Moment liegt sie auf der Intensivstation der Uniklinik. Vielleicht kann ich helfen?“
„Herr Malek?“, fragte Krüger nach.
Der Mann nickte bloß.
Krüger klaubte seinen Dienstausweis aus der Jackentasche. „Ich möchte herausfinden, was mit Frau Kruse geschehen ist. Ihr Zustand ist mir bekannt. Sind Sie bereit, einige Fragen zu beantworten?“
„Aber selbstverständlich. Ich möchte selbst gerne wissen, was passiert ist. Woher hat sie die furchtbare Verletzung und weshalb hat sie mich nicht zu Hilfe gerufen. Ich hätte sie doch direkt in die Klinik gebracht. Bevor sich diese Sepsis derart schlimm entwickeln konnte.“
Der Mann wischte sich kurz mit der Hand über die Augen. „Wenn sie stirbt, weil ich nichts bemerkt habe, werde ich mir für den Rest meines Lebens Vorwürfe machen.“
„Können wir uns irgendwo hinsetzen. Und haben Sie etwas dagegen, wenn sich meine Kollegen die Wohnung von Frau Kruse ansehen. Einen Beschluss haben wir nicht, es ist also völlig freiwillig.“
Malek winkte ab. „Wenn es helfen kann, dann tun Sie es. Die Wohnung ist übrigens offen. Sahra hatte niemals abgeschlossen.“
Krüger stutzte kurz. „Eine Frau, die alleine lebt, schließt nicht ab. Das finde ich doch eher seltsam?“
Malek zuckte mit den Schultern. „Sie war stets davon überzeugt, dass es nichts mehr gibt, das man ihr noch nehmen könnte. Weder Hab und Gut noch Würde. Man hat ihr übel mitgespielt, als sie ein junges Mädchen war. Wie sie das geschafft hat, auch noch mit dem Kind?“ Er zuckte wieder mit den Schultern. „Keine Ahnung. Sie hat niemals darüber geredet.“
Krüger wirkte skeptisch. „Woher wissen Sie es denn, wenn sie nicht darüber reden wollte?“
„Sie haben sie noch nie gesehen.“ Keine Frage, eine Feststellung.
„Nein, tatsächlich nicht“, gab Krüger zu. „Haben Sie vielleicht ein Foto von ihr?“
„Ein Foto von Sahra?“ Malek schüttelte den Kopf. „Das ist völlig unmöglich. Sie hat längst genug gelitten!“
Krüger wurde unsicher. „Aber Sie stehen Frau Kruse näher? Obwohl sie anders, aussieht?“ Krüger verfluchte innerlich Holoch, der ihn weder gewarnt noch informiert hatte, dass mit Frau Kruses Aussehen etwas nicht stimmte.
„Ich bin der Einzige, außer ihrem Sohn, der sie regelmäßig ungeschminkt zu Gesicht bekommt. Sonst hat sie höchstens Umgang mit Verblichenen, die sie nicht anstarren.“
„Also gut!“ Krüger straffte sich. „Frau Kruse hat einen Makel. Der so schlimm ist, dass sie sich nicht unter die Leute traut. Aber trotzdem war sie offenbar Samstagabend am Rhein, und hat vermutlich in einem Wagen zusammen mit einem Mann gesessen.“
Malek lachte heiser auf. „Mit einem Mann. Ich war es jedenfalls nicht. Und zu einem anderen würde sie sich niemals hinsetzen. Wenn sie mal irgendwo hingehen muss, ist ihr Gesicht vollständig übermalt wie bei einer Theaterschauspielerin. Keiner würde Sahra erkennen, ohne Schminke. Außer uns. Also ich und Benno. Deshalb glaube ich kein Wort davon. Wer will sie denn gesehen haben? Mit einem Mann im Auto?“
Malek schnaubte verächtlich durch die Nase. „Sahra ist eine anständige Frau! Auch wenn sie nicht so aussieht!“
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