„Waldhöft“, meldete er sich.
Es war die Gerichtsmedizin. Man hatte jemanden gefunden, der zur DNA des Mannes passte, der seine Spuren am Opfer hinterlassen hatte. Der Kommissar rang mit sich, ob er zuerst in die Gerichtsmedizin fahren sollte, entschied sich aber dagegen. Er erklärte, warum er erst morgen kommen würde und gab eine Fahndung nach dem vermeintlichen Täter heraus.
Endlich machte er sich auf den Weg nach Wiesbaden. Als er auf dem Parkplatz angekommen war, fiel ihm ein, dass hier auch die berühmte Bianca Verskoff arbeitete. Vielleicht würde er sie endlich einmal persönlich kennenlernen. Die Kollegen hatten gesagt, seit ihr Mann und sein Kollege tot waren, hatte sie sich vollkommen zurückgezogen und war unnahbar geworden. Mit Spannung betrat er das Gebäude, wo er sich am Empfang anmeldete.
„Ich bin Ferdinand Waldhöft und habe einen Termin im Archiv.“
„Fahren Sie mit dem Aufzug hinunter. Frau Verskoff erwartet Sie.“
Oh, dachte er, ich werde sie tatsächlich treffen. Mit schnellen Schritten war er am Fahrstuhl angekommen und fuhr abwärts. Im Keller war es kühl. Ein Summen, das Ferdinand nicht zuordnen konnte, durchbrach die Stille. Es schien aus einem der hinteren Räume zu kommen.
„Guten Tag, Herr Waldhöft“, sagte eine Stimme hinter ihm.
Der Kommissar drehte sich um und sah eine schlanke Frau mit schulterlangen dunklen Haaren in der hinteren Tür stehen, aus der jetzt ein helles Licht floss. Die Traurigkeit ihres Herzens schwappte wie eine Welle über ihn, obwohl sie lächelte. Es waren ihre Augen, die wie hinter einem Schleier aus Schmerz zu liegen schienen.
„Frau Verskoff?“
Die Kommissarin nickte und ging Ferdinand entgegen.
„Wir können uns ins Besprechungszimmer setzen, dort ist es freundlicher als hier unten.“
„Das macht mir nichts aus, Frau Verskoff, wir können gerne hierbleiben. Nur kein Aufwand.“
„Gut“, sagte Bianca und ging zurück in ihr Büro.
Sie setzten sich an den Schreibtisch, nachdem Bianca den zweiten Stuhl an die gegenüberliegende Seite gerollt hatte. Im Vorbeigehen war Ferdinands Blick auf den Bildschirm gefallen. Das kleine Mädchen saß auf einer Wiese und ein Strohhut lag neben ihr. Die blauen Augen leuchteten fröhlich und die Sonne schien.
„Nicola“, sagte Ferdinand und sah Biancas verblüfften Blick. „Wenn ich ihr Lachen sehe, muss ich immer an die Mutter denken, die ihr kleines Mädchen vermisst. Ob sie noch lebt?“
Bianca hatte schnell den Bildschirm ausgeschaltet, denn irgendwie erschien es ihr sonderbar, dass ein Fremder Nicola kannte. Ferdinand ahnte, dass dieses Bild etwas Besonderes war, darum wechselte er rasch das Thema.
„Wir haben eine Tote, die zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt ist. Meine Kollegin hat gesagt, es gibt sie nicht.“
„Ich verstehe. Es könnte sein, dass sie länger als fünfzehn Jahre vermisst wird. Dann werde ich mal in den alten Akten danach suchen und melde mich. Haben Sie den Obduktionsbericht und einige Eckdaten für mich?“
Ferdinand schob einen Ordner über den Tisch und Bianca schlug die erste Seite auf. Dort befand sich das Foto der Toten. Sie hatte blonde lange Haare, die anscheinend zu zwei Zöpfen geflochten waren, aber auf der einen Seite lagen die Haare locker neben ihrem Kopf. Ein Zopf war noch intakt und wurde von einem blauen Samtband zusammengehalten.
„Gibt es das zweite Band?“, fragte Bianca.
„Nein, das muss der Täter mitgenommen haben. Vielleicht wollte er eine Art Trophäe. Sie haben ihn aber schon identifiziert. Er ist der Polizei bekannt. Toby Däkelts, vorbestraft wegen sexueller Übergriffe, hat aber niemals gemordet. Er ist sechsundzwanzig.“
„Warum sind solche Männer auf freiem Fuß?“
„So blöd es auch klingt, er hat eine Therapie gemacht und galt als ungefährlich.“
„Oh Mann, so etwas macht mich fertig. Das Mädchen könnte noch leben. Ich habe eine Frage: Wie kam sie denn dahin? Und woher kam sie? Das ist sehr merkwürdig. Es gab da mal …“
Sie rannte plötzlich aus dem Büro und kam nach einigen Minuten zurück.
„Es gab vor zwei Jahren mal eine junge Frau, achtzehn Jahre alt, die stand einfach eines Tages mitten in Eltville und war vollkommen verwirrt. Sie wusste nicht, wie sie an diesen Ort gekommen und wo sie vorher war. Sie heißt Karoline, aber auch das ist nicht zu hundert Prozent sicher … Moment.“
Bianca löste den Knoten um die dicke Akte und schlug sie auf. Vom Foto schaute ihnen eine blonde junge Frau entgegen. Sie trug geflochtene Zöpfe, die mit blauen Samtbändern zusammengehalten wurden.
Die beiden sahen sich an und schluckten, denn alles sah aus, als gäbe es hier einen Zusammenhang. In dem Moment kam Riva von oben und steckte den Kopf durch die Tür.
„Hallo, Herr Kommissar, wir haben vorhin telefoniert. Ich bin Riva Minettoz. Sie sollen sofort ins Büro kommen. Es gab wohl eine Verhaftung. Ein Toby Däkelts.“
Schnell sprang Ferdinand auf und eilte zur Tür. Riva wartete im Flur. Er drehte sich noch einmal zu Bianca um.
„Warum kommen Sie nicht mit? Dann verhören wir ihn zusammen. Vielleicht weiß er, woher sie gekommen ist.“
Bianca war zusammengezuckt und wurde blass. Niemals wieder würde sie ihr altes Büro im Präsidium betreten. Niemals!
„Danke, aber ich versuche herauszufinden, wer das Opfer ist.“
Ferdinand zuckte mit den Schultern und ging.
Toby Däkelts heulte wie ein Schlosshund. Er hatte schon zwei Pakete Papiertaschentücher verbraucht, seit er hier angekommen war.
„Ich wollte das nicht, ehrlich“, winselte er. „Sie hat plötzlich geschrien und um sich geschlagen.“
„Sie haben die junge Frau vergewaltigt, als sie bereits tot war“, bellte der Staatsanwalt, der vor Ferdinand zur Vernehmung angekommen war.
Ella stand an der hinteren Wand und nickte ihrem Kollegen zu. Ferdinand grüßte höflich, erhielt aber keine Antwort. Er setzte sich neben den Staatsanwalt.
„Bitte, Sie müssen mir glauben, ich wollte das nicht!“, schrie Toby jetzt panisch.
Dr. Rosenschuh schlug mit der Faust auf den Tisch. Ferdinand räusperte sich und bat ihn, mit hinauszugehen. Sie standen auf und verließen das Büro. Ella behielt Toby im Auge.
„Er hat gestanden, was wollen Sie denn noch?“
„Herr Dr. Rosenschuh, das ist alles schön und gut, aber wir wissen immer doch gar nicht, wer die Tote ist, wie alt sie ist oder woher sie an diesem Abend kam.“
„Ja, aber …“
„Lassen Sie mich bitte ausreden. Es gibt vielleicht eine Verbindung zu einem Fall von vor zwei Jahren. Da stand ein Mädchen ähnlichen Alters plötzlich mitten in Eltville. Bis heute wissen wir fast nichts. Ich habe die Akte bei Frau Verskoff gelassen und gehe morgen noch einmal hin.“
„Was denn für eine Verbindung?“
„Beide sind blond, haben geflochtene Haare und tragen blaue Samtschleifen.“
Der Staatsanwalt zog die Augenbrauen hoch und grinste.
„Ja, klar. Und schon vermuten die lieben Ermittler einen Serientäter. Frau Verskoff ist sicher zu haben für Ihre Theorie. Viel Spaß. Ich bringe jetzt den Vergewaltiger und Mörder hinter Gitter.“
„Darf ich ihn allein befragen?“
„Bitte, wenn Sie es für richtig halten. Sie haben fünf Minuten. Dann geht er ab in seine Zelle, wo er weiterheulen kann.“
Ferdinand schluckte seinen Ärger hinunter und ging zurück in den Vernehmungsraum. Ella stand immer noch schweigend an der Wand. Sie war seltsam still und schien mit den Gedanken woanders zu sein. Der Kommissar setzte sich.
„Ich bin Kommissar Waldhöft. Herr Däkelts, ich habe noch einige Fragen und möchte Sie bitten, ganz genau nachzudenken. Wo ist Ihnen die junge Frau begegnet? Haben Sie sie von irgendwo kommen sehen?“
Der Angesprochene hörte auf zu weinen, wischte mit dem Ärmel seiner Jacke über sein Gesicht und sah den Kommissar an.
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