Lange vor deiner Geburt bat Amarun, der einstige König Wardistans, den Zauberer Halamor, ihm zu helfen. Obwohl der König aufgrund vergangener Kriege die Magie so sehr fürchtete, dass er sein Land der Kirche und der heiligen Inquisition unterstellte, sah er nirgendwo einen anderen Ausweg. Weil alle Gebete zu Gott ihm und seinen Untertanen nicht halfen, blieb die Schwarze Kunst Halamors seine letzte Hoffnung. Seit Monden hatte die Erde keinen Regen gesehen. Die Flüsse trockneten aus, das Land verdorrte und das gemeine Volk litt unter der Dürre. König Amarun bot dem Zauberer, zur Abgeltung seiner Dienste, unbegrenzten Zutritt zur Bibliothek der geheimen Bücher. Die meisten der nicht Magiebegabten jener Zeit fürchteten deren Macht. Die Menschen unterschieden nicht mehr zwischen heller und dunkler Magie und so sperrten sie jedes Zauberbuch weg, dessen sie habhaft wurden. Dieses gesammelte, uralte Wissen lagerte bewacht und gesichert in den Katakomben unterhalb des Königsschlosses.
Halamor entstammte einer Nebenlinie des Herrschergeblüts. Von Kindesbeinen an lebte der arme Anverwandte am Hof des Königs.
Amarun nahm ihn auf, gewährte ihm dieselbe Bildung, die er seinem Sohn zukommen ließ. Trotz des Wissens, dass in den Adern des Zöglings eine machtvolle Magie heranwuchs, vertraute er ihm und stellte er ihn unter seinen persönlichen Schutz.
Doch der Junge dankte es ihm nicht. Er neidete dem Königssohn die Königswürde. Trachtete insgeheim nach dem, was ihm qua Geburt nicht zustand. In seinen frühen Jahren schon beschloss Halamor, der Mächtigste aller irdischen Zauberer zu werden. Er verbarg diesen Wunsch lange tief in sich. Er war sich gewiss, seine Zeit würde kommen. Die Bitte des Amaruns war für ihn wie ein Fingerzeig Gottes. Halamor versprach, dem verzweifelten Herrscher zu helfen. Weil seine Magie für so eine große Aufgabe nicht ausgeprägt sei, erbat er sofortigen Zugang zur Bibliothek der geheimen Bücher. Der König, in seiner Not und im Vertrauen auf Halamors Ergebenheit, gewährte ihm diesen Wunsch unter der Bedingung, dass der am Königshof weilende Großinquisitor Haradan, jeden von Halamors Schritten begleite. Der junge Zauberer willigte ein.
Mithilfe eines Denkzaubers lernte er schnell. Er las die Seite eines Buches nur flüchtig und schon war das Wissen in seinem Kopf gespeichert.
In den langen Tagen und Nächten, die sie in den Katakomben mit dem Studium der Bücher verbrachten, erkannten der Halamor und der Haradan ihre Seelenverwandtschaft. Der Inquisitor, ein von Neid zerfressener Priester, über keinerlei Magie verfügend, verschrieb sich der Ausrottung alles Magischen und sicherte sich dafür den Segen von Papst und König. Das Streben nach irdischer Macht bildete den teuflischen Nährboden ihres Bündnisses.
Nur wenige Wochen später vollführten die beiden in Anwesenheit von König Amaruns und dessen Gefolge das Ritual der Wetterwende. Seiner jugendlichen Aufregung geschuldet verwechselte der Zauberer die Kräuter für das Verbrennungsopfer. Es gelang ihm, an jenem Tag den Regen herbeizurufen, die Wolkendecke über Wardistan blieb bis heute verschlossen. Den Dauerregen besänftigte Halamor, die ewige Dämmerung wurde im Lauf der Jahre zum Wahrzeichen seiner Macht. Amarun zeigte sich anfangs dankbar. Er schenkte dem Jungen Ländereien und dauerhaft unbegrenzten Zugang zu den Büchern. Mit der Zeit aber, aufgrund des fehlenden Sonnenlichts, kamen ihm Zweifel an der Redlichkeit Halamors. Lange gelang es Haradan, die Vorbehalte des Königs zu besänftigen.
Im fünften Jahr der Dämmerung bezichtigte Amarun den Zauberer frevelhafter Absichten. In einem Anflug höchster Wut und mit dem Ausbrechen dunkelster Magie tötete der Zögling König Amarun und all seine Anverwandten. Der Beauftragte des Papstes, Inquisitor Haradan, krönte kurze Zeit später den Zauberer Halamor zum rechtmäßigen Herrscher. Doch das Land war wegen der langen Dürre und des fehlenden Sonnenlichts verarmt. Nichts wuchs auf den einst üppigen Feldern. Alle Vorräte waren verbraucht. Aus den Menschen ließen sich keine Schätze pressen. So rüstete König Halamor seine Truppen und brachte, weit über die Grenzen von Wardistan hinaus, Angst und Schrecken in die Welt. Er brandschatzte in der Grenzregion, raubte die schönsten Frauen. Im anhaltenden Dämmerlicht verloren sie alle ihre Schönheit und nicht wenige von ihnen das Leben. Keine gebar ihm ein Kind. Der mächtigste Zauberer der Welt verfügte dank seiner Raubzüge über großen Reichtum. Kein Sprössling zierte seinen Hof. Ein Herrscher ohne Thronfolger ist wie ein König ohne Land.
Mirianda rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, doch bei Saragundes den letzten Worten hält sie es nicht auf ihrem Platz. Sie springt mit zornesrotem Kopf auf »So dankst du ihm seine Güte? Er hat dich hierher zu mir gebracht!«
»Schweig!«, ruft die Heilerin mit rasselnder Stimme. Sie wirft ihren Umhang von den Schultern und hebt die Arme gen Himmel. Sie wächst in die Höhe. Alles Schwache und Kranke fällt von ihr ab. Vor Mirianda steht eine hochgewachsene Frau, die langen weißen Haare flattern im Wind, Flügeln gleich. Die Krähen um sie herum krächzen und trippeln aufgeregt auf ihren Plätzen. Saragundes linker Arm kreist zweimal langsam durch Luft, dann fällt er wie ein Stein zurück. Die geballte Faust landet in der geöffneten rechten Hand. Die Krähen verstummen, alles verstummt. Kein Vogelgezwitscher, kein Bienensummen, kein Käferbrummen. Für einen Augenblick steht die Welt still.
Miriandas Mund öffnet sich, ob der merklichen Wandlung der Heilerin, doch nicht ein Laut ist zu hören. Saragundes Haut schimmert sanft in den Farben des Regenbogens. Das helle Leuchten umschließt Mirianda, besänftigt ihren Zorn.
»Setz dich und lausche!«, fordert Saragunde mit weicher Stimme. Diese greift Halt suchend hinter sich, lässt sich auf den Stuhl fallen. Die Heilerin löst eine zartgliedrige Kette mit einem blau schimmernden Anhänger von ihrem Hals. Ein einflügliger Drache mit einem Rubinauge. Im weit geöffneten Maul trägt er ein Zepter aus feurig roter Koralle. »Dies ist deine Hälfte des Amuletts deiner Mutter. Sie gab es mir, damit ich es für dich bewahre. Möge es dich auf deinem Weg begleiten, dich mit seiner Macht schützen und dich in finsteren Zeiten lehren, das Richtige zu tun.«
Zittrig greift Mirianda nach dem Drachenamulett. Das Erbe Soranas. Zum ersten Mal berührt ihre Haut etwas, was der Mutter gehörte. Ein wildes Feuer durchströmt ihren Körper. Sie hält den Atem an. Folgt dem Impuls, die Kette von sich zu werfen, doch Saragunde umschließt Miriandas Hand mit ihren Fingern. »Nicht!«, sagt sie. »Das Amulett will dich kennenlernen. Du spürst die Energie deiner Ahnen, sie erkunden dich, Pore für Pore. Sie sind dir wohlgesonnen.«
Mirianda sitzt wie erstarrt auf der Kante ihres Stuhls. Die Heilerin nimmt ihr das Amulett aus der Hand, beugt sich vor und legt es ihr um den Hals. »Du musst es gut hüten! Gib es niemandem, außer deiner Erstgeborenen. Ihre Aufgabe wird es sein, das fehlende Teil mit deinem Teil zu vereinen. In höchster Not wird die Kraft des Drachen deine Familie und dein Volk retten.«
Miriandas Haut kribbelt. An der Stelle über ihrem Herz, an der das Amulett sie berührt, breitet sich ein Leuchten aus. Durchströmt ihrem gesamten Körper, bis sie von innen herausleuchtet. »Es ist magisch!«, sagt sie ihre strahlenden Hände betrachtend. »Vater duldet keine Magie im Schloss.« Mirianda schüttelt den Kopf, als wäre dieser Gedanke ein lästiges Insekt.
»Es ist magisch!«, bestätigt Saragunde. »Dem Amulett haftet die Lebenskraft deiner Mutter an, verbindet sich mit der deinen. Deine innere Sonne erwacht. Eines Tages wird deine Tochter seine wahre Magie freisetzen. Aber bis dahin fällt noch viel Wasser vom Himmel herunter und du wirst uns alle von Halamors Knechtschaft erlösen!«
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