In dem ersten Augenblick, wo der Schreck ihm alles phantastisch vergrößerte, bildete er sich beinahe ein, die Thürangel sei ein belebtes Wesen geworden, das bellen würde, wie ein Hund, um die Schläfer zu wecken und Hilfe herbeizurufen.
Er blieb stehen, zitternd vor Angst, und fiel auf seine Fersen zurück. Das Blut hörte er in seinen Schläfen hämmern und seinen Athem mit der Gewalt eines Sturmes aus seiner Brust herauskommen. Es dünkte ihm unmöglich, daß der schreckliche Lärm nicht das ganze Haus in seinen Grundfesten erschüttert haben sollte, wie ein Erdbeben. Der Alte würde auffahren, die Frauen ein Geschrei erheben; dann mußte Hülfe kommen, und in höchstens einer Viertelstunde war die Stadt in Aufruhr, die Gendarmerie auf den Beinen. Er hielt sich für verloren.
Er blieb stehen, wo er war, starr wie eine Bildsäule, regungslos.
So verstrichen einige Minuten. Die Thür war weit aufgegangen. Er wagte es endlich, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Nichts hatte sich geregt. Er lauschte. Alles war still im Hause. Das Geknarr der verrosteten Thürangel hatte Niemand aufgeweckt.
Die erste Gefahr war vorbei, aber noch tobte ein heftiger Tumult in seinem Innern. Trotzdem ging er nicht zurück, so wenig, wie im ersten Augenblick, wo er geglaubt hatte, alles sei verloren. Entschlossen wollte er ein Ende machen. Er that einen Schritt vorwärts und befand sich in dem Zimmer.
Hier unterschied das Auge verworrene, unbestimmte Gegenstände, in denen man am Tage auf dem Tisch verstreute Papiere, offene Folianten, Bücher, einen Lehnstuhl, auf dem Kleidungsstücke lagen, einen Betstuhl erkannt hätte, die aber jetzt sich nur als dunkle Winkel und Ecken, oder weiße Flächen darstellten. Vorsichtig schritt Jean Valjean weiter, indem er es sorgfältig vermied, an die Möbel anzustoßen. Im Hintergrunde ließ sich der gleichmäßige Athem des Bischofs vernehmen, der fest schlief.
Plötzlich blieb Jean Valjean stehen. Er sah dicht vor sich das Bett. Er war dort früher angelangt, als er geglaubt hatte.
Die Natur scheint bisweilen in den Gang der menschlichen Handlungen eingreifen, in entscheidungsvollen Augenblicken uns warnen, zum Nachdenken zwingen zu wollen. So zertheilte sich, gerade, als Jean Valjean vor dem Bett stehen blieb, eine große Wolke, die seit einer halben Stunde den Himmel verdunkelte, so zu sagen mit Zweck und Absicht, und das Mondlicht überfluthete plötzlich das blasse Gesicht des Bischofs, der friedlich schlummerte. Er trug im Bett, wegen der Kälte, die des Nachts in den Unteralpen herrscht, ein braunwollenes Hemd, dessen Aermel bis zu den Handgelenken hinabreichten. Sein Kopf war nach oben gewendet; die mit dem Bischofsring geschmückte Hand hing aus dem Bett heraus. Aus allen Zügen seines edlen Antlitzes leuchtete klare Heiterkeit, Hoffnung, Seelenfriede, als schaue er im Schlafe den Himmel. Und ein Himmel war es ja auch, der sich auf seinem Antlitz abspiegelte: Sein Gewissen.
In dem Augenblick, wo sich das Mondlicht mit dieser innern Klarheit paarte, war der schlafende Bischof wie von einem Glorienschein umwoben. Aber dieses Licht war ein mildes, gedämpftes und die Umgebung, der Mond am Himmel, die schlummernde Landschaft, die Stille des Hauses standen in feierlich harmonischem Einklang mit dem majestätischen Anblick, den der hehre Greis in seinem kindlich festen Schlafe den Augen des Betrachters darbot.
Jean Valjean, der nie Aehnliches gesehen, dem eine solche friedfertige Sorglosigkeit unfaßbar war, starrte unbeweglich, mit Erstaunen, auf den Schlafenden. Er war empfänglich für das Erhabene, das Schöne, und seine Haltung sowohl, wie seine Mienen verriethen, daß dieses Schauspiel einen tiefen Eindruck auf sein Gemüth machten. Aber welches seine Gedanken waren, ließ sich nicht muthmaßen. Er konnte ebenso gut überlegen, ob er dem Greise den Schädel einschlagen, oder ihm die Hand küssen solle.
Nach einer kurzen Weile nahm er mit der linken Hand seine Mütze ab und ließ sie ebenso langsam wieder sinken. Dann versank er wieder in die Betrachtung des unerklärlichen Schauspiels, die Mütze in der linken, die eiserne Stange in der rechten Hand.
Plötzlich stülpte er die Mütze wieder auf den Kopf, ging hastig, ohne den Bischof anzusehen, das Bett entlang, auf den Wandschrank zu und setzte das Eisen an, um das Schloß aufzubrechen. Da bemerkte er, daß der Schlüssel darin steckte, schloß den Schrank auf, nahm den Korb mit dem Silberzeug heraus, ging mit raschem Schritt und ohne Obacht zu geben, ob er auch keinen Lärm machte, auf die Thür zu, in das Betzimmer zurück, riß das Fenster auf, packte seinen Stock, schwang sich über die Brüstung, steckte das Silberzeug in seinen Tornister, warf den Korb weg, rannte durch den Garten, sprang wie ein Tiger über die Mauern und eilte davon.
XII. Der Bischof bei der Arbeit
Beim Sonnenaufgang, als der Bischof in seinem Garten spazieren ging, kam Frau Magloire mit verstörtem Gesicht herbeigeeilt.
»Bischöfliche Gnaden, wissen Bischöfliche Gnaden, wo der Korb mit dem Silbergeschirr ist?«
»Ja«, sagte der Bischof.
»Gott und der Heiland sei gepriesen! Ich wußte nicht, wo er hingekommen war.«
Der Bischof hatte den Korb auf einem Beet gefunden und reichte ihn jetzt der Magd.
»Hier ist er.«
»Ja, wo ist denn aber das Silberzeug?«
»Ach, das Silbergeschirr wollen Sie haben? Ja, wo das ist, weiß ich nicht.«
»Herr des Himmels, es ist gestohlen! Der Fremde hat es gestohlen!«
Im Handumdrehen eilte die flinke Alte in das Betzimmer und den Alkoven, und wieder zu ihrem Herrn zurück. Der Bischof stand gebückt und betrachtete seufzend eine Staude Löffelkraut, die unter dem Korb zerknickt worden war. Bei dem Geschrei, das Frau Magloire erhob, richtete er sich auf.
»Bischöfliche Gnaden, der Mann ist fort! Das Silber ist gestohlen.«
Zu gleicher Zeit fiel ihr Blick auf eine Ecke des Gartens, wo aus der Zinne der Mauer ein Stück abgebrochen war.
»Da, sehen Sie! Da ist er hinübergeklettert, in die Rue Cochefilet! O diese Schändlichkeit! Er hat uns unser Silberzeug gestohlen!«
Der Bischof verharrte eine Weile in seinem Stillschweigen; dann richtete er seine ernsten Augen auf Frau Magloire und fragte mit sanfter Stimme:
»Gehörte denn das Silber uns?«
Frau Magloire war sprachlos. Wieder trat eine Pause ein, dann hob der Bischof wieder an:
»Frau Magloire, dieses Silberzeug habe ich mit Unrecht und viel zu lange zurückbehalten. Es gehörte den Armen. Unser Gast war doch gewiß ein Armer.«
»Du lieber Himmel! Ich sage es ja nicht meinetwegen und nicht wegen dem gnädigen Fräulein. Uns ist es ja egal. Aber Bischöfliche Gnaden! Woraus sollen denn Bischöfliche Gnaden jetzt speisen?«
Der Bischof sah sie erstaunt an.
»Als wenn es keine zinnernen Bestecke gäbe!«
Frau Magloire zuckte die Achseln.
»Zinn riecht schlecht.«
»Dann kaufen wir eiserne.«
»Eisernes Geschirr hinterläßt einen Nachgeschmack.«
»Gut, dann nehmen wir hölzerne.«
Gleich darauf frühstückte er an demselben Tische, an den sich am Abend zuvor Jean Valjean gesetzt hatte, und während seine Schwester schwieg und Frau Magloire brummte, bemerkte er vergnügt, es bedürfe keines Löffels und keiner Gabel, auch keiner hölzernen, um ein Stück Brod in Milch zu tauchen.
»Nein, so was!« brummte Frau Magloire, während sie im Zimmer hantierte. »Einen solchen Menschen bei sich zu beherbergen! Und so dicht neben sich! Ein wahres Glück, daß er blos gestohlen. Erbarmen! Wenn man denkt, was hätte passieren können!«
Eben wollte der Bischof und seine Schwester sich von der Tafel erheben, als an die Thür geklopft wurde.
»Herein!« rief der Bischof.
Die Thür that sich auf und vier Menschen erschienen auf der Schwelle. Drei davon waren Gendarmen, die den Vierten, Jean Valjean, beim Kragen gepackt hielten. Auch ein Gendarmerie-Wachtmeister war zugegen. Er trat vor und salutierte militärisch den Bischof.
Читать дальше