„Ist gut! Mache ich sofort!“, versprach Sheriff O’Connor und schickte sich an, hinter dem Captain und den beiden Soldaten die Praxis zu verlassen. Nur Friedrich blieb zurück und beobachtete, wie Doktor Retzner die vier Männer mit einem finsteren Blick bedachte, als sie die Türe hinter sich zuschlugen.
Müde räkelte Nikolaus sich in seinem Bett. Die Nacht brach um diese späte Jahreszeit früh herein und ein anstrengender Nachmittag lag hinter ihm, denn er hatte Miklós im Stall geholfen, nachdem dieser mit seiner Grippe kaum aufzustehen vermochte.
„Schneit es draußen?“, fragte er seine Mutter, die die beiden Wolldecken über ihm ausbreitete.
Luise lächelte sanft und strich ihm das braune, widerspenstige Haar aus der Stirn. „Ja, es schneit ganz große, schwere Flocken!“
„Ich will hinausschauen!“, rief der Junge und wollte aufspringen, doch seine Mutter hielt ihn zurück.
„Oh nein! Du bleibst im Bett und schläfst!“ Sie lächelte und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Und wenn du morgen früh aufstehst, ist die ganze Welt weiß und sagt dir, dass der erste Advent bald vor der Tür steht!“
„Und dann kommt bald Weihnachten“, sagte Nikolaus glücklich lächelnd und gähnte laut. „Nicht wahr, Mutti? Dann ist auch bald Weihnachten?“
„Ja, mein Liebling!“ Sie drückte die Decken an allen Seiten fest, damit keine kalte Luft darunter konnte und ihr jüngster Sohn sich womöglich erkältete. „Dann ist bald Weihnachten!“
Sie nahm die Petroleumlampe vom Nachttisch und ging zur Tür. Mit einem letzten, zärtlichen Blick raunte sie ein leises „Gute Nacht!“, ehe sie das Zimmer verließ.
Der Wohnraum war mit mehreren Lampen und dem offenen Kamin hell erleuchtet. Hugh saß am Tisch, noch immer damit beschäftigt, den Unterricht für die nächsten Tage vorzubereiten und Friedrich arbeitete an seinem nächsten Gottesdienst. Luise lächelte und stellte die Lampe beiseite, auf die Kommode. Nur Julie war noch immer nicht Zuhause, sondern half wieder einmal Doktor Retzner bis spät abends in der Praxis.
Alles schien so friedlich. Sie besaßen ein eigenes Haus, das sie nach und nach mit allem würden ausstatten können, was ein Haushalt brauchte. Was wollten sie mehr? Die Auswanderung und der Entschluss, Deutschland den Rücken zu kehren, waren gut gewesen, die richtige Entscheidung. Zufrieden griff Luise nach ihrer Strickarbeit und setzte sich in den Schaukelstuhl neben dem Kamin, in dem knisternd das Feuer brannte und eine angenehme Wärme verbreitete. Heute, vor dem Schlafengehen, würde sie zweimal das Vaterunser sprechen, denn es gab wirklich nichts, worüber sie sich beschweren könnte – außer vielleicht über ihre einzige Tochter, die immer mehr zum Mann mutierte, was ihre Art, sich zu bewegen und zu kleiden anbelangte. Aber gut, auch dafür würde sich eine Lösung finden und Luise war davon überzeugt, dass der Tag nicht mehr fern sein würde, an dem Hardy Retzner und Juliane von Friedrich getraut werden würden und dann hatte sich sowieso jede unnötige Auseinandersetzung mit einem Schlag erledigt.
Der Sturm pfiff eisig und unerbittlich über das Land und um die Hausecken. Er wirbelte die Schneeflocken im teuflischen Spiel umher und ließ die Bäume gefährlich nach allen Himmelsrichtungen wippen.
„Was für ein scheußliches Wetter“, meinte Hardy, während er Holz im kleinen Bullerofen seiner Praxis nachlegte. „Sieht fast so aus, als würde es immer schlimmer!“
„Bloß gut, dass ich gleich heute Morgen zu der kleinen Farm hinter der Eisenbahnlinie geritten bin“, bemerkte Julie, während sie das nächste Medikamentenfläschchen aus der Kiste nahm, die am Vormittag mit dem Frachtzug bei der Wagoner Kreuzung angekommen war. Sorgfältig notierte sie den Namen, der auf der Flasche stand, auf einer Liste, die Doktor Retzner penibel genau führte, um zu wissen, welche Medikamente er nachbestellen musste und welche er noch auf Vorrat hatte.
„Sie sollten lieber nach Hause gehen, bevor es noch schlimmer wird“, schlug Hardy vor und trat lächelnd zu ihr. Er fand, dass sie an diesem Tag, mit den zu einem Dutt hochgesteckten Haaren, ganz besonders hübsch und bezaubernd aussah.
„Das macht nichts“, erwiderte Julie, völlig auf ihre Arbeit konzentriert. „Ich mache das hier fertig und dann gehe ich. Meine Eltern wissen ja, wo sie mich finden.“
„Ich werde Sie begleiten“, versicherte Hardy eilig.
„Oh, das ist nicht nötig“, meinte Julie, ihn kurz ansehend. „Die Indianer sind bisher ja nicht aufgetaucht.“
„Hmm“, machte Hardy nachdenklich. „Mit dem Captain schon seit zwei Tage da draußen und noch immer keine Nachricht von ihm...“
„Wahrscheinlich ist es nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hat“, mutmaßte Julie mit einer Schärfe, die Hardy eine Sekunde den Atem verschlug. Er betrachtete ihr Profil lange, dann überkam ihn das plötzliche, unstillbare Verlangen, sie zu berühren. Er streckte seine Hand aus und strich mit den Fingerspitzen sacht über ihren unbedeckten Hals. Sie zuckte zurück. Verwirrt starrten ihre bernsteinfarbenen Augen ihn an.
„Ist...ich meine, stimmt etwas nicht?“, fragte sie schließlich zaghaft. Dieser eigenartige Ausdruck auf Hardys kantigem Gesicht jagte ihr ein wenig Angst ein. Sie hatte ihn noch nie zuvor an ihm bemerkt und sie wusste nicht, was er zu bedeuten hatte.
„Julie...“ Hardy gab sich einen Ruck. Es war endlich an der Zeit, dass er ihr die entscheidende Frage stellte. Er besaß nun eine eigene Praxis und eine gesicherte Existenz und es gab keinen Grund mehr, weshalb er nicht um ihre Hand anhalten sollte.
„Julie“, sagte er noch einmal und ergriff ihre Hände. „Seitdem ich Sie in New York, am Hafen, zum ersten Mal gesehen habe, war mir klar, dass Sie eines Tages meine Frau werden.“
Sie schaute ihn fassungslos, überrumpelt an, schwieg jedoch, was er als Zeichen wertete, fortzufahren. „Ich glaube, die Zeit ist jetzt gekommen, da ich bei Ihrem Vater um Ihre Hand anhalte, Julie-Mädchen...natürlich nur, wenn Sie das auch möchten!“ Er lächelte und wartete auf eine Erwiderung ihrerseits. Als diese nicht kam, holte er tief Luft und stieß feierlich hervor: „Juliane Kleinfeld, möchten Sie meine Frau werden?“
Endlich brachte Julie es fertig, den Mund aufzumachen. Sie konnte einfach nicht glauben, was hier vor soeben passierte! Er wollte sie heiraten!
„Frau?“, erwiderte sie gedehnt.
„Ja, natürlich!“ Enthusiastisch schlang Hardy seine Arme um ihre Taille und zog sie fest an sich. „Spürst du das denn nicht? Merkst du denn dieses gewisse Gefühl nicht, wenn ich dich berühre, so wie jetzt?“
Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie stürmisch. Seine feuchten Lippen pressten sich auf die ihren. Mit aller Kraft wollte Julie sich von ihm freimachen. Sie wollte ihn nicht küssen und sie wollte auch nicht seine Frau werden! Doch die Leidenschaft, die Hardy überkommen hatte, schien ihn alles vergessen zu lassen. Er küsste und küsste sie, während seine Hände ihre Taille beinahe schmerzhaft umklammerten. Endlich ließ er atemlos von ihr ab.
„Sag“, raunte er heiser und keuchend. „Spürst du das nicht?“
Julie zögerte einen Moment. Sie wollte ihn nicht anlügen, sie war immer ehrlich zu ihm gewesen und so schüttelte sie langsam den Kopf. „Nein, ich fühle überhaupt nichts.“
Sie machte sich von ihm frei. Ihr entging die Veränderung auf seinem Gesicht nicht und es tat ihr entsetzlich leid, dass sie ihn irgendwie enttäuscht haben musste, aber es war besser, als ihn zu belügen und falsche Hoffnungen in ihm zu wecken. Niemals würde sie seine Frau werden und wenn er der letzte Mann auf Erden wäre. Sie mochte ihn sehr, er war ihr ein guter und teurer Freund geworden, aber doch kein Mann, den sie heiraten, mit dem sie Kinder haben wollte!
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