Die Buchmalerei wird in den Verfall der klösterlichen Kunst hineingezogen. Dass Handschriften weltlichen Inhalts jetzt häufiger mit Bildern geschmückt werden, ist kulturgeschichtlich bemerkenswert; die Kunstentwicklung hat bedeutende Impulse daraus nicht empfangen. Nur in den Niederlanden kommt in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine Buchmalerei von und für Laien in die Höhe, in der wir den Anfang einer neuen Auffassung erkennen; sie führt alsbald aus dem Mittelalter heraus. Endgültige Befreiung sowohl von der Einschnürung ins Kunstgewerbe als von der Verflüchtigung in Baudekoration brachte dann das Altarbild. Seine Geschichte, wenn sie auch im 14. Jahrhundert beginnt, gehört in die Anfänge der Neuzeit.
Ungleich der Malerei hatte die Plastik der Frühzeit jegliche Verbindung mit der monumentalen Kunst verloren. Die altchristliche Kirche konnte auf diesem Gebiet der Anschauung der nordischen Völker nichts darbieten. Geraume Zeit, bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts und länger, blieb die Bildhauerkunst ausschließlich Kleinkunst im Gefolge des Kunsthandwerks: sie schmückte Altarvorsätze, Kruzifixe, Leuchter, Diptychen, Buchdeckel, Messgeräte u. dgl. Kunstpsychologisch bemerkenswert ist die Tatsache, dass Auge und Hand der Neulinge sich weit leichter in die plastische Form einlebten als in die Abstraktionen der Malerei, und so tritt denn hier, neben dem, was den Vorbildern verdankt wird, verhältnismäßig früh auch Eigenes hervor. Die technischen Gattungen sind scharf voneinander getrennt, jede hat ihre eigene Formenüberlieferung. Den vornehmsten Eindruck macht die Elfenbeinplastik an Diptychen, Hostienbüchsen und Reliquienkästchen. Zu ihrer Schulung stand ein reicher Vorrat spätantiker und byzantinischer Musterstücke zur Verfügung. Doch es wurde nicht bloß kopiert, wir begegnen auch selbsterfundenen Kompositionen (z. B. in einer Reihe von Diptychen, die im 9. Jahrhundert in Metz oder Reims entstanden sind), ja sogar einer Formenauffassung, die das überlieferte Schema durch Naturbeobachtung zu ergänzen und zu beleben wagte (sächsische und rheinische Werkstätten). Im Lauf des 11. Jahrhunderts stirbt dieser Kunstzweig ab, um auf veränderten Grundlagen im 13., jetzt vornehmlich in Frankreich, eine zweite Blüte zu erleben.
Wollte man eine Stufe höher hinauf gehen und auch der Architektur plastischen Schmuck geben, so wandte man sich an den den Germanen sehr früh vertraut gewordenen Erzguss. Solcher Art sind aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts die großen Domtüren zu Augsburg und Hildesheim und die sog. Bernwardsäule daselbst. Monumental sind sie nur durch ihre Funktion; nach Stil und Technik gehören sie völlig der Kleinkunst. Die Erinnerungen an italienische Vorbilder erstrecken sich nur auf die Anordnung im Großen; der Einzelausdruck musste selbständig gefunden werden. Die Hildesheimer Tür zumal ist ein denkwürdiges Beispiel dafür, was entstehen konnte, wenn ein begabter Künstler von energischem Unabhängigkeitssinn sich voraussetzungslos dem Naturalismus in die Arme warf: in der Stärke des Ausdrucks ist er unerreicht, aber die Herrschaft über Form und Komposition hat er gänzlich verloren. Mit so keckem Sturmlauf ließ sich das Ziel nicht gewinnen. Das Interesse an plastischen Aufgaben blieb im sächsischen Stammgebiet lebendig, mehr als in anderen Teilen Deutschlands, aber das 11. Jahrhundert verging und ein großer Teil des 12., ohne dass ein nennenswerter Fortschritt gemacht wurde. Nur das Programm erweiterte sich: Grabplatten mit lebensgroßen Gestalten kamen in Aufnahme, nicht in Stein, sondern in dem noch immer geläufigeren Bronzeguss oder in fügsamer Stuckmasse; in gleichem Material dekorative Figuren an den Zwickeln zwischen den Arkaden der Kirchenschiffe oder an Chorschranken; kolossale Kreuzigungsgruppen aus Holz. Man sieht, an monumentalen Aufgaben fehlte es nicht mehr, wohl aber noch immer an einem monumentalen Stil.
Bis zu diesem Punkt war der Stand der Plastik in Deutschland, Frankreich, Italien ungefähr gleich hoch oder niedrig gewesen, in Deutschland vielleicht etwas höher sogar als in den anderen Ländern trotz deren älterer Kultur. Der monumentale Stil ist die alleinige Schöpfung Frankreichs. Er entstand um dieselbe Zeit und in denselben Schulen, deren Energie sich auf die Vervollkommnung des Gewölbebaus warf. Der innere Zusammenhang ist verständlich. Beide Erscheinungen sind Teile desselben Strebens nach erhöhter Monumentalität überhaupt; beide entfalten sich auch in der historischen Abfolge parallel. Die monumentale Plastik tut ihre ersten Schritte in Südfrankreich, es folgt Burgund, aber von der Mitte des 12. Jahrhunderts ab übernimmt der Norden die Führung. Die neue Stilbildung ist, dass die Plastik nicht mehr als ein frei im architektonischen Raum befindlicher oder einem architektonischen Untergrund angehefteter Schmuck, sondern, in viel tieferer Verbindung, als ein Teil der Architektur selbst gedacht wird. Ihre früheste und immer ihre Lieblingsschöpfung ist das Statuenportal. In Bezug auf Prachtentfaltung als solche war schon in den romanischen Portalen von Toulouse, Arles und St. Gilles, Autun und Vezelay ein Höchstes getan; mit den Westportalen der Kathedrale von Chartres beginnt doch ein ganz neues Geschlecht, neu nicht nur durch die Massenvermehrung der plastischen Arbeit, sondern noch viel mehr durch die veränderte Regelung ihres Dienstverhältnisses zur Architektur. Diese ist nicht mehr Rahmen der Plastik, die dann innerhalb desselben ihr eigenes, nur in den allgemeinen Gesetzen der Symmetrie und des Gleichgewichts mit jener in Einklang gebrachtes Leben führt (wie an den Giebelgruppen der griechischen Tempel), nein, es sind die unmittelbar tektonischen Glieder, Säulen und Archivolten, welche die plastischen Figuren an sich ziehen, ja schließlich geradezu durch sie sich ersetzen lassen. Ein Verhältnis, wie es noch niemals in der Kunst bestanden hatte. Rasch, wie in allen ihren Gedankenentwicklungen, schreitet auch hierin die Gotik vorwärts. Sie erkennt, dass in den gesteigerten Maßen und verschärften Kontrasten ihres Systems alle bisher gebräuchlichen Arten der Ornamentierung wirkungslos sind, und so ersieht sie sich die Figurenplastik zu einem Dekorationsmittel aus, von dem sie in kolossalstem Maßstab Gebrauch macht. Sie war das auch den Interessen des Kultus schuldig; denn nachdem sie die Malerei aus dem Inneren der Kirchen verdrängt hatte, konnte sie nur noch in dieser Form der heiligen Bilderfülle zu ihrem Recht verhelfen. So blieb es nicht bei den Portalen, obschon ein einziges an 200 Figuren aufnehmen konnte (z. B. am mittleren der drei Westportale in Amiens, außer denen noch ähnlich reich behandelte Querschiffportale vorhanden waren: 14 Freistatuen am Gewände, 88 Statuetten in der Bogenleibung, 4 stark gefüllte Reliefstreifen im Tympanon, 20 Sockelreliefs), auch die Galerien der oberen Fassadengeschosse bevölkerten sich mit langen Reihen von Standbildern, desgleichen die Tabernakel der Strebepfeiler, die Spitzen der Fialen und zu alledem noch ein gar nicht mehr zu zählendes Heer rein dekorativer Figuren an Kragsteinen, Wasserspeiern u. dgl. m. Die Berechnung, dass die ganz großen Kathedralen zu ihrer vollständigen Ausrüstung 2000 Bildwerke und mehr gebraucht haben, ist kaum übertrieben. Niemals hat ein Baustil der plastischen Kunst ein so unermessliches Feld der Tätigkeit geöffnet, niemals ihr zugleich so drückende Bedingungen auferlegt. Eine der wichtigsten derselben ist der »Blockzwang«, d. h. jede Gestalt muss in den von der Architektur ihr bestimmten Block eingeschlossen bleiben, es müssen die Verbindungslinien, die das Auge zwischen den äußersten Ausladungen der Figur herstellt, die ursprünglichen Grenzflächen der Rohform wiedererkennen lassen. Anders ausgedrückt: auch die Freistatue hört niemals ganz auf, Säule zu sein. Gegenüber den Gefahren bei Zusammenpressung des Unendlichvielen in engem Raum, wie das kirchlich-ikonographische Programm es forderte, gewährleistete dieses Prinzip auch für die verwickeltste Komposition Klarheit und Ruhe des Aufbaus. Die Architektur war vor Störung sicher. Aber in welcher Lage befand sich der Bildhauer? Welche Schmiegsamkeit der Erfindung war nötig, um in dieser Einschnürung ungezwungene und abwechslungsreiche Bewegungsmotive zu erreichen! Und welche Entsagung, um für Standorte zu arbeiten – das gilt für alles Bildwerk an den oberen Teilen des Gebäudes – wo nie eine andere als summarische Betrachtung möglich ist.
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