»Komm, versuch es! Bitte, Amily, für uns. Bitte.« Ich atmete dreimal durch und hangelte mich dann an einer der Ketten hoch bis zur Schnalle. Mit dem kleinen Finger friemelte ich die Schnalle aus der Öse. Das tat weh. Und dann - fiel ich kraftlos in meine Ausgangsposition zurück. Auf diesen gewaltigen Ruck in den Handgelenken folgte ein heftiger Schmerz.
Jack fand immer wieder die richtigen Worte, um mich anzutreiben:
»Mach schon. Amily, du hast es gleich. Du bist ein starkes Mädchen«, sagte er, dann kam von ihm kein Laut mehr. »Nein, nein, Jack! Lass mich nicht im Stich.« Voller Verzweiflung entfesselte ich Kräfte, die mir bislang verborgen gewesen waren, packte die Kette, zog mich bis zur Schnalle hoch und schob den verdammten Stift aus dem Loch. Meine erste Hand war frei. Wenn ich eine Hand befreien konnte, dann auch die andere. Nach dem dritten Versuch konnte ich auch die zweite Schnalle lösen, holte Schwung und fiel, bis die Fußfessel mich stoppte. Was für eine blöde Idee, stellte ich schmerzerfüllt fest. Als ich da hing, sah ich das ganze Ausmaß von Jacks Verwundungen. Meine verletzte Seele schrie nach Vergeltung, wem auch immer diese galt. Mein Zorn überwand jegliche Grenzen der Physik. Den Oberkörper nach oben gestemmt, klammerte ich mich an der Kette fest. Mit letzter Kraftreserve – die Schusswunde blutete jetzt wieder stärker - öffnete ich die Schnalle, dabei glitt der Fuß heraus. Frei. Ich konnte mich nirgends mehr festhalten, die Ketten der Armfessel waren für mich nicht erreichbar, deshalb schnellte mein Körper nach unten. Es knackte heftig im Fußgelenk, doch die lederne Schnalle riss dabei ab. Aus einem Reflex heraus schützte ich meinen Kopf, krachte mit voller Wucht auf den harten Betonfußboden und verlor das Bewusstsein.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schlug ich die Augen auf, sah Jack bewusstlos in den Ketten hängen. Selber kaum in der Lage, mich zu rühren, probierte ich, meine Hände aufzustützen, aber mein Körper gehorchte mir nicht. Ich hörte eine Tür schlagen, versuchte wegzukriechen, doch es ging nicht, meine Gliedmaßen waren nicht bereit, den nächsten Schritt zu tun. Also entschied ich einfach, die Augen geschlossen zu halten. Tote Frau spielen. Ich atmete möglichst flach. Nach den Schritten zu urteilen, handelte es sich um zwei oder drei Personen. Sie blieben vor mir stehen, diskutierten in einer Sprache von der ich annahm, dass es Spanisch sei, ich aber kein Wort verstand. Zugern hätte ich gewusst, worum es ging. Es wurde immer anstrengender, meine Atmung zu kontrollieren. Hört auf zu palavern!
Jemand schnappte meine Beine, schleifte meinen nackten, stark blutenden Körper über den schmirgelpapierartigen Betonfußboden. Nach einigen Metern ließen sie meine Füße fallen. Ich musste mich fürchterlich zusammenreißen, bei dieser zweifelhaften Methode keine Miene zu verziehen oder gar laut aufzuschreien. Kalter Schweiß benetzte jeden Quadratzentimeter meiner Haut. Mit geschlossenen Augen vernahm ich das Quietschen von Metallrollen, Ketten, die klirrend aneinanderschlugen. Daraus schloss ich, dass sie Jack herabließen, um wiederholt auf ihn einzuschlagen. Irgendetwas brach, ein dumpfes Geräusch, als würde ein Körper auf dem Beton aufschlagen. Einer der Männer murmelte:
»Wer hätte das gedacht, er hat sie wohl doch nicht. Verflucht!«
»Mist, wir haben die Falschen. Und nun?«
»Lass mich nochmal versuchen.« Daraufhin brüllte der Kerl Jack in einem letzten Versuch an:
»Wenn du die Rolle doch hast, töten wir jeden, der dir nahesteht, dann wirst du sehr, sehr einsam sterben, mein Freund.« Die Männer gingen zum Ausgang. Einer von ihnen drehte sich auf seinen Ledersohlen noch einmal um, Stoff raschelte, ich hörte das Entriegeln einer Schusswaffe und dann einen Knall. Mein Körper produzierte einen Hitzeschub, der in ein brachiales Brennen überging. Mein Oberschenkel fühlte sich an, als gehörte er nicht zu mir. Ich war viel zu entsetzt, um zu schreien.
»Okay, vergiss es, die ist mausetot«, grölte einer der Männer, sie lachten lauthals.
Hauptsache, ihr habt Spaß. Ich schwor, Rache zu nehmen. Für Jacks Qualen und die verlorene Liebe. Ich würde herausfinden, wer dahintersteckte und dann ... Ich weinte lautlos, ängstlich, nicht das Richtige zu tun. Die Tür schlug zu. Ich wartete regungslos, bis es dunkel wurde, um sicherzugehen, dass unser Überleben verborgen blieb, dann befahl ich mir:
Komm, raff dich auf, kümmere dich um Jack! Du bist an der Reihe. Nur allzu schwerfällig gehorchten meine Arme, stemmten meinen geschwächten Oberkörper in die Höhe. Ich sah Jack in drei Metern Entfernung auf dem Boden liegen. Kein Lebenszeichen ging von ihm aus.
»Los, Amily, auf die Beine!«, trieb ich mich unter unerträglichen Schmerzen an. Ich erlangte meinen Geruchssinn zurück, der schlug Alarm. Es stank bestialisch nach Öl und Benzin. Ich wankte zu dem Reglosen.
»Steh auf, Jack! Steh auf!« Nur allmählich kehrte Leben in seinen geschundenen Körper zurück.
»Bist du okay, Amily?«
»Ja, geht schon. Komm, wir müssen hier raus, es riecht hier furchtbar nach Brennstoff.«
Jack kam nur unter großen Anstrengungen auf die Beine, aber endlich stand er, und ich selbst blutete noch immer.
»Haben die Schweine etwa auf dich geschossen?« Der Zorn loderte in seinen Augen.
»Unwichtig, wir müssen hier raus! Ich habe so ein komisches Gefühl, dass die wiederkommen.« Wir schleppten uns gebeugt zur Seitentür, mühten uns gemeinsam mit der Klinke ab, aber die war festgerostet. Nichts rührte sich. Plötzlich riss jemand die größere Tür an der Stirnseite auf, die der Haupteingang sein musste. Erschrocken fuhren wir herum. Einer unserer Peiniger tat einen Schritt ins Innere. Ich rechnete fest damit, dass er uns erschießen würde. Er bemerkte abfällig:
»So, ihr lebt doch noch. Ihr zwei erstaunt mich immer mehr.« Dann warf er unter höhnischem Gelächter sein brennendes Feuerzeug in eine der schimmernden Pfützen, was rasend schnell ein Feuerinferno entfachte, das rasch um sich griff. Der Mann verließ die Halle und schlug die Tür zu. Wir waren gefangen im Flammenmeer! Mittlerweile war es kochend heiß.
»Jack, mach die verdammte Tür auf!« Die Rauchentwicklung nahm zu, ich begann zu husten. Jack zog und zerrte an der Tür. Vergeblich. Auch er hatte Luftnot, seine Augen tränten und er keuchte verzweifelt:
»Ich versuch’s. Es geht nicht! Scheiße, das ist eine Schiebetür.« Mit dieser Erkenntnis setzten wir alles daran, sie endlich zu öffnen. Die Flammen kamen bedrohlich näher. Erst drückten wir nach links, falls sich unter der Tür ein Keil befinden sollte. So war es auch, die Tür ließ sich endlich aufschieben. Wir keuchten und rangen nach Luft. In dem Moment, als der Sauerstoff ungehindert eindringen konnte, geschah es: Jäh raste eine Feuerwalze auf uns zu. Es ging alles viel zu schnell. Jack drehte sich mit dem Rücken zum Feuer, stellte sich beschützend vor mich, und schrie mich an:
»Vertrau mir!« Er hielt mich fest umschlossen. Ich vertraute ihm. Die Feuerwalze trieb eine gewaltige Druckwelle vor sich her, welche uns dann aus dem Gebäude katapultierte.
03 - Nichts ist, wie es scheint
Gott weiß, wie lange wir da im Dunkeln gelegen hatten. Es dauerte eine geraume Weile, bis ich mich orientieren konnte. Trotz des Infernos vor unserer Nase war mir bitterkalt. Schnell wurde man der lodernden Flammen und der Verpuffungen gewahr, eine ganze Heerschar von Einsatzkräften rückte an. Im Zuge der Löscharbeiten stolperten sie quasi über uns.
»Hierher!« Ich streckte einen Arm in die Höhe, um auf uns aufmerksam zu machen. Zig Retter eilten herbei, ein Helikopter schwebte über uns. Da waren flackernde Lichter in Rot und Blau und Suchscheinwerfer. Die helfenden Hände, die nicht mit den Löscharbeiten betraut waren, waren bemüht, uns zu versorgen. Ich schloss die Augen, konnte endlich loslassen.
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