Der maßgeschneiderte, helle Sommeranzug kann den traumhaften Körperbau dieses Mannes nicht verbergen. Er ist groß, schlank aber nicht zu dünn, sein muskulöser Körper ist durch sein Hemd viel zu deutlich zu erahnen.
Dieser Mann hat die Ausstrahlung eins edlen Reitpferdes.
Mann, ich hatte schon lange keinen Mann mehr!
Scheiße, so blamiert habe ich mich glaube ich noch nie.
Ich bin wirklich total übermüdet und schäme mich dafür, dass ich einfach die Flucht ergriffen habe, was muss der Mann von mir denken?
Der hält mich doch für komplett bescheuert.
Hoffentlich läuft mir der nicht noch einmal über den Weg.
Obwohl – schade wäre es schon, selten so einen schönen Mann gesehen.
Nach dem peinlichen Abgang von gestern Abend, möchte ich heute nur noch meine Ruhe haben.
Da ich früher als erwartet eingeschlafen bin, erwachte ich heute Morgen sehr früh, habe mir meine Yogamatte geschnappt und laufe jetzt, am völlig menschenleeren Strand entlang, um einen schönen Platz für meine Übungen zu suchen.
Da um diese Uhrzeit nur sehr wenig Menschen unterwegs sind, empfängt mich am Strand eine angenehme Ruhe.
Die nahe, stark befahrene Straße ist nicht zu hören, nur Stille und das meditative Geräusch der Brandung, stimmen mich auf eine entspannte Yogastunde ein.
Gut gelaunt und voller Tatendrang schlendere ich an dem Nachbarhotel vorbei, ansonsten ist der Strand, soweit das Auge reicht, völlig frei von Gebäuden. Links neben mir erhebt sich ein Steilhang aus rotbraunem Sand, der oben mit Graß bewachsen ist, auf der rechten Seite das weite blaue Meer.
Nachdem ich eine Weile am Strand entlang wandere sehe ich oben auf dem Hang ein Haus, welches durch steile Steinstufen einen Zugang zum Meer bietet, es sieht unbewohnt aus.
Nach etwa zehn Minuten komme ich an eine weitere, in den Sand gehauene Steintreppe, auch hier sehe ich oberhalb der Stufen, in einiger Entfernung ein großes Haus stehen, auch dieses scheint zur Zeit unbewohnt zu sein. Ich erklimme deshalb mutig die Stufen und stehe auf einem, mit dichtem Gras bewachsenen, Grundstück.
Sicherlich gehört es jemandem, aber da ich keine Bewegung wahrnehme, kein Auto am Haus steht und es für mich völlig verlassen aussieht, breite ich meine Matte aus und beginne mit dem Blick auf das morgendliche, völlig still und ruhig daliegende Meer, mit einer kleinen Meditation.
Weit unter mir höre ich die leise Brandung, in weiter Ferne schreien Möwen und unzählige Schwalben schwirren hinter mir durch die Bäume des großzügig angelegten Grundstücks.
Natürlich weiß ich, dass ich mich auf einem fremden Grundstück befinde, aber diese völlige Stille zieht mich in ihren Bann, so dass ich keinen weiteren Gedanken daran verschwende.
Was kann schon passieren – der Eigentümer kann mich wegschicken.
So what.
Es gibt kaum etwas Schöneres, als Yoga an frischer Luft.
Ich praktiziere seit sechs Jahren Yoga, die ersten drei Jahre in einem Studio, doch dann habe ich angefangen, es in meinen Alltag zu integrieren und seit dem spare ich mir die Kosten.
Ich genieße es, wie ich mit jeder Übung gelenkiger und gedehnter werde.
Die Sonne geht hinter meinem Rücken auf, da ich mich für die Blickrichtung Meer entschieden habe, aber dennoch bekomme ich zum ersten Mal das Gefühl, zu wissen, warum die Dehnungsübungen „Sonnengruß“ genannt werden.
Nach etwa einer guten halben Stunde bin ich gedehnt und meine Muskulatur ist warm genug, um mit Wing Chun zu beginnen.
Dabei handelt es sich um einen chinesischen Kampfkunststil – Kung-Fu-Stil.
Eine Kampfkunst bei der hauptsächlich direkte Fauststöße, Fingerstiche oder Handkantenschläge eingesetzt werden. In fast allen Schulen wird „Vollkontakt“ trainiert, soll heißen, dass die Schläge nicht nur angedeutet, sondern voll ausgeführt werden, daher auch die Bezeichnung „Vollkontakt“. Es wird sehr wenig Rücksicht darauf genommen, wie lange man bereits trainiert.
Ein sehr hartes Training, bei dem man sehr schnell lernen sollte, möchte man Schmerzen vermeiden.
Ein typisches Trainingsgerät ist das MUK Yan Yong, zu Deutsch, „Holzpuppe“.
Hierbei handelt es sich um ein dickes, hartes Rundholz, welches auf einem Vierkantholz befestig ist, wahlweise auch direkt im Boden eingelassen, aus dem drei bis vier schmale Rundhölzer herausragen, gegen die im Training abwechselnd geschlagen wird. Zugeschlagen wird mit der Hand und dem Fuß, wobei beim Wing Chun nicht höher als bis zur Hüfte getreten wird.
Der tiefere Sinn des Trainings an der Holzpuppe ist, die Verfeinerung der Schlagtechnik, sowie die Abhärtung der Hände und Beine. Ferner ist das Ziel, sich gegen stärkere, nicht nachgebende Gegner durch zu setzten.
Nicht zuletzt, dient die Puppe als Ersatz für einen Trainingspartner.
Die GSG9 der Bundespolizei, sowie Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr, werden in dieser Kampftechnik ausgebildet. Durch die Polizei, genauer gesagt, meinen Kontakt im Zeugenschutz, bin ich auf diese Kampfsportart erst aufmerksam geworden.
Ich habe mich auch schon während ich noch im Zeugenschutzprogramm war nicht wirklich sicher gefühlt und suchte immer nach etwas, was mir dabei hilft, mich selbst zu verteidigen, sollte dies nötig werden.
Als es in einem der wenigen Begegnungen mit meinem Kontakt aus dem Zeugenschutz darum ging, wie verunsichert ich mich fühle, wurde ich auf Wing Chun hingewiesen.
Ich habe mich dann schlau gemacht und festgestellt, dass dies für mich genau die richtige Technik ist.
So konnte ich in den letzten Jahren Handkantenschläge lernen, mit denen ich einen weit stärkeren Mann, in Sekunden außer Gefecht setzen kann.
Diese Technik braucht im Gegensatz zu anderen Kampfsportarten wenig Platz und ist meiner Meinung nach für Frauen bestens geeignet.
Ich kenne allein vier Schläge, die auch eine untrainierte Frau anwenden könnte um sich einen Mann vom Leib zu halten.
Einer ist mit viel Training sogar tödlich.
Einen Tritt kennt jede Frau, den Tritt zwischen die Beine.
Nur keine Scham, wenn es um die Unversehrtheit von Leib und Leben geht, ist alles erlaubt.
Das Erste, was ich feststellen musste, als ich zu trainieren begann, war, dass wir Frauen generell ein Problem damit haben, zu zuschlagen.
Jungs lernen dies von klein auf, wir Frauen müssen uns erst dazu überwinden, bzw. dies Trainieren. Es kostete mich Anfangs wirklich Überwindung richtig, mit voller Kraft zu zutreten.
Heute trainiere ich mindestens vier Mal die Woche, allerdings nicht mehr im Studio, denn für mich sind nur vier Schläge wirklich wichtig.
Ich kann es mir nicht leisten, es auf einen fairen Kampf ankommen zu lassen, sollte mich die Vergangenheit wirklich einmal einholen, bleibt mir keine Zeit für faire Kämpfe.
Da ich meine leichten Boxhandschuhe nicht mit in den Urlaub genommen habe, mache ich nur Gleichgewichtsübungen und einige Schrittfolgen aus dem Wing Chun.
An den Bäumen könnte ich zwar super meine Hände und damit meine Schlagkraft trainieren, doch ohne Handschuhe macht es wenig Sinn.
Ich erinnere mich noch an die ersten Monate, als ich verbissen, an der Holzpuppe trainiert habe und dabei meine Hände und Unterarme total ruinierte. Obwohl ich inzwischen seit zwei Jahren nur noch Sporthandschuhe trage, sieht man immer noch die alten Vernarbungen.
Ich hatte mir die Hände blutig geschlagen und jeder einzelne Knochen an meiner Hand war schon einmal gebrochen.
Irgendwann meinte dann mein Trainer, entweder ich steige auf Handschuhe um, oder ich darf nicht mehr weiter in seinem Studio trainieren.
Nach einem ausgiebigen Frühstückt liege ich nun endlich das erste Mal am Strand.
Entweder ist es heute wärmer als Gestern, oder ich empfinde es lediglich so.
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