Es beunruhigte Anja, dass sich Herr Steger den ganzen Tag nicht gemeldet hatte. Ein wichtiger Aspekt des betreuten Wohnens war, den Menschen ein großes Maß an Eigenständigkeit zu ermöglichen, ohne sie ständig zu kontrollieren. Dennoch nahm sie sich vor, bei nächster Gelegenheit wieder bei ihm reinzuschauen. Ihre Arbeitstage schienen fließend ineinander überzugehen.
Also, tief Luft holen und ab nach Hause. Anja war dabei, den Autoschlüssel ins Zündschloss zu stecken, als ihr Handy eine eingehende Textmessage meldete.
>Mama, wir sind in Alice’s Restaurant, kommst du nach?<
>Okay, ich mache mich auf den Weg<, schrieb sie zurück. Anja hatte den Namen des Restaurants nie gehört. Das hieß jedoch nichts, da sie selten essen gingen.
Und sofort war es wieder da, das schlechte Gewissen. Ja, sie hatten ursprünglich geplant, dieses Wochenende ins Kino zu gehen. Und nun waren ihre Kinder nachmittags in einem Restaurant. Wie waren sie dorthin gekommen? Allein? Mit Seb? Der ging fast nie essen. Was für eine seltsame Idee!
›Das sieht ihm ähnlich!‹, schoss es ihr durch den Kopf. Vermutlich war ihm wieder mal nichts eingefallen. Kein Wunder, wenn man stunden-, nein tagelang vorm PC hockt! Anja selbst schmerzten die Augen schon nach dreißig Minuten vor dem Bildschirm.
Bei ihren Internetrecherchen war sie schnell frustriert, wenn die Beiträge nicht gleich eine konkrete Antwort auf ihre Frage lieferten. Und, anstatt zur Ausgangsfrage zurückzukehren, sobald sie merkte, dass sie sich zu verzetteln begann, fuhr sie verärgert das Gerät ergebnislos herunter. Was blieb, war das Gefühl, unnütz verbrachter Zeit. Für Seb hingegen schienen Stunden vor dem PC Qualitätszeit zu sein. Hierbei half ihm seine Beharrlichkeit. Ob der Kombination von Fachwissen und der Fertigkeit, die Optionshierarchien streng systematisch und analytisch abzufragen, vermochte er auftretende Probleme erfolgreich zu lösen.
Dennoch gab es Tage, an denen selbst Seb gedanklich festzuhängen schien. Anja hörte ihn dann laut in seinem Zimmer fluchen und den PC beleidigen. In solchen Momenten war sie froh, wenn seine Tür verschlossen war. Die Frage, ob sie ihn ansprechen oder alles ignorieren sollte, stellte sich nicht. Auch Seb konnte ungenießbar sein.
Der PC schien definitiv Sebs Ding zu sein. Vermutlich hatte er den Kindern solange erlaubt, an seinem PC zu spielen, bis dieser ihm selbst wieder zu fehlen begann. Ja, jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Er hatte Clara und Phillip ins Kino geschickt hatte, um Ruhe zu haben. ‚Alice‘s Restaurant‘ war kein Restaurant, sondern ein Film, der in einer Retrospektive im CinemaxX lief – sie erinnerte sich dunkel an einen Artikel im Lokalteil der Zeitung.
Wut stieg in ihr auf. Zeitgleich ein Bild von Clara und Phillip, wie sie ängstlich fragend den Blick auf ihre Mutter richteten und sie dann nicht mehr aus den Augen ließen. Jetzt durchlebte sie erneut ihre fast vergessene, beklemmende Schockstarre, als sie die Kinder allein ein einem Sandkasten sitzend gefunden hatte.
Anja schüttelte sich. Das war fünf Jahre her. Phillip war knapp anderthalb Jahre alt gewesen. Anja zog mit beiden Händen die Kopfhaut am Haaransatz zurück, wie andere sich die Augen reiben, um eine gewisse Müdigkeit zu beherrschen.
»Seb ist nicht Jakob«, sagte sie laut zu sich selbst. Nur, hoffentlich hat er die Kinder wenigstens hingefahren. Aber, verdammt, sein Auto war ja in der Werkstatt.
Schneller als erlaubt fuhr Anja in Richtung Kino, fand jedoch erst nach der dritten Runde um den Block einen winzigen Parkplatz und hetzte in die Kinoeingangshalle.
Tatsächlich lief ‚Alice‘s Restaurant‘ aus den 70ern im Augenblick. Irritiert löste Anja eine Karte und machte sich auf die Suche. Als sie im Kinosaal nach ihnen rief, erntete sie nichts als missbilligende Bemerkungen der Zuschauer.
Ihre Panik hatte sich zwar gelegt, aber dennoch war sie ratlos. Wo waren Clara und Phillip? Erneut schickte sie eine Nachricht raus und fragte, wo sie nun seien. Sie waren in einer Parallelvorstellung, in einer Wiederholung von ‚Flutsch und weg‘. Der Film war fast zu Ende. Anja beschloss, in der Eingangshalle auf sie zu warten. Schnell schrieb sie eine wütende Textmessage an Seb. < Wie kannst du nur die Kinder allein ins Kino schicken? > und fügte ein dunkelrotes wütendes Emoji hinzu.
Als sich die Kinosaaltüren öffneten, traute Anja ihren Augen nicht, denn etwas seltsam wirkten die drei schon. Aber sie waren ausgespochen gut drauf. Phillip steckte in einer schlotterigen Cordhose mit gestickter Bordüre, die ihm etwas zu groß war und Carla in einem schrillen, orange-roten Poncho im Ethnolook. Sie war behängt mit diversen langen Ketten und Armreifen. Seb trug ausgefranste Jeans und Jesuslatschen. Ihre Kinder waren nicht allein!
Es trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht, als sie Seb sah, versuchte, sich aber zu fangen.
»Moment mal, Fasching ist doch vorbei. Habt ihr euch das nur für den Kinobesuch ausgedacht?«
»Nö, das hat sich so ergeben«, antwortete Clara etwas kühl.
»Was heißt, das hat sich so ergeben? Worher habt ihr das Zeug?«
»Von Max und Inge, Freunden von Seb.«
»Nie gehört, von denen hast du noch nie etwas erzählt.«
»Die sind auch gerade erst aus Australien zurück und haben ein Känguru mitgebracht!«, prustete Phillip.
»Sehr witzig und der Koala kommt nächste Woche, stimmt‘s?«
»Erst in einem Monat«, raunte Phillip verschwörerisch.
»Nein, das Känguru ist aus Plastik, aufblasbar und noch nicht Inges Aufräumaktion zum Opfer gefallen«, ließ sich Sebastian gnädig zu einer Erklärung herab.
»Na gut, nur, warum lauft ihr hier so seltsam gekleidet herum?«
»Inge räumt auf. Sie möchte ihre Wohnung völlig umgestalten: mit am besten gar nichts, viel weiß, klaren einfachen Formen und mit einigen wenigen exklusiven Möbelstücken«, erläuterte er weiter.
»Und beim Aufräumen stieß sie auf zwei Kisten mit den Lieblingsklamotten ihrer Oma, die war voll mit Klamotten aus den 70er Jahren«, unterbrach Clara begeistert.
»He, he, Mädel, auf einmal modebewusst und geschichtlich bewandert, Hut ab, Clara!«
»Sebastian hatte sowieso vorgehabt, mit uns zum 70er Jahre Straßenfest zu gehen. Den Rest kannst du dir denken.«
»Kann ich – ehrlich gesagt – nicht.«
»Ich konnte doch Max nicht mit seinen Computerproblemen allein lassen. Für ihn stand Einiges auf dem Spiel und er war unter Zeitdruck, seine Präsentation für das Vorstellungsgespräch fertigstellen zu müssen«.
»Der hat vielleicht komisch gekuckt, als wir zu dritt in der Tür standen«, mischte sich Phillip ein.
»Ja, Begeisterung ist etwas anderes, aber er hat schnell begriffen, dass es keine Alternative gab. So hat er dann den Kindern grünes Licht gegeben, die Kisten seiner Schwiegermutter zu durchstöbern und damit den Tag gerettet.«
»Ohne seine Frau zu fragen?«, erkundigte sich Anja ungläubig.
»Mir war es egal und ihm – glaube ich – auch. Auf jeden Fall waren die Kinder beschäftigt und ich hatte ausreichend Zeit für die Fehlerdiagnose am PC.«
»Und Clara und Phillip konnten sich selbst beschäftigen?«
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