Nein, abnehmen können wir es ihnen nicht, wohl aber verständnisvoll begleiten. Monas Worte klangen in Anja nach.
»Na gut, wenn Sie schon mal da sind«, durchbrach Marco Steger Anjas Gedankenfluss, »dann könnten Sie mir ja neue Wäsche herunterreichen, beziehungsweise den Inhalt des obersten Regals weiter unten einordnen, ja?«
»Eine gute Idee, mache ich sofort«, sagte Anja, froh, etwas tun zu können.
»Und morgen erklären Sie mir die Sache mit dem Ankommen«, versuchte Anja, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.
»Ankommen?«
»Ja, Sie haben an ihrem ersten Tag gesagt, dass Ankommen für Sie Aufbruch und Abenteuer bedeutet, oder so ähnlich. Das fand ich ungewöhnlich, aber an die genauen Worte erinnere ich mich nicht mehr.«
»Wozu auch? Es ist völlig irrelevant - das interessiert hier sowieso keinen.« Anja wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.
»Wenn Sie meinen, dann auf Wiedersehen, Herr Steger. Ich hab noch ‘ne Menge zu tun.«
Irritiert verließ sie das Zimmer.
Nachdenklich blieb Marco Steger zurück. Irgendwas war schief gelaufen. Nur was? Anja war fort und er hatte Gelegenheit und Zeit, darüber nachzugrübeln. Viel Zeit.
Sein Albtraum kam nicht von ungefähr. Ein ganzes Jahr lang hatten sie sich vorbereitet: Sie, das waren Bernd, Andreas und er selbst. Kartenstudium und Training unter Anleitung erfahrener, umsichtiger Bergführer. Wagemutige Gipfelstürmer waren ihnen stets suspekt erschienen. Einzeln, in ihrer Dreiergruppe oder mit anderen Bergsteigern hatten sie auf vielen Bergtouren und Gipfelbesteigungen in Europa Erfahrungen gesammelt. Zusammen hatten sie den ›Antelao‹ und ›Gran Paradis‹ in den italienischen Alpen bezwungen, den ›Piz Kesch‹ in der Schweiz und in Frankreich die ›Barre des Ecrins‹ und den ›Mont Blanc‹, alles Gipfel über 3200m hoch. In der Zwischenzeit hatten sie zusätzlich gemeinsam ein Spaltenbergungstraining absolviert.
Keiner von ihnen hatte die wahnwitzige Ambition, in die Klasse der Weltberühmtheiten wie Reinhold Mesmer oder Ralf Dujmovits aufzusteigen. Aber die 8000m wurden zu einer magischen Zahl und die Idee zum Projekt: Einmal im Leben wollten sie gemeinsam einen Achttausender besteigen. Es war nicht die Gefahr, die sie suchten, sondern der Wunsch nach der eigenen persönlichen Grenzerfahrung. Soweit hatte Konsens bestanden und ihnen das Gefühl gegenseitiger Verbundenheit gegeben. Darüber, was diese Grenzerfahrung für den Einzelnen jeweils konkret bedeutete, hatten sie nicht gesprochen.
Marco blickte auf die Uhr an der Wand. Obwohl es erst 11:00 Uhr war, fühlte er sich müde und erschöpft. Warum sollte er nicht vor dem Mittagessen ein wenig ruhen? Er hievte sich vom Rollstuhl ins Bett und rollte sich mit einem erleichterten Seufzer auf die Seite. Es war beruhigend zu wissen, dass Albträume ihn tagsüber nie heimsuchten.
Später, bei Tisch setzte sich ein ihm bislang unbekannter Herr zu ihm.
»Guten Appetit, mein Name ist Hummer, Frederik Hummer.«
»Danke gleichfalls, Marco Steger.«
»Sind Sie schon lange hier?«
»Keinesfalls, erst eine Woche. Noch habe ich mich nicht an den Gedanken gewöhnt, hier jetzt für immer zu bleiben.«
»Wer sagt denn, dass dies hier eine Endstation für Sie ist. Es gibt so viele Alten… Pardon, Seniorenheime, Residenzen, Pflegeeinrichtungen und wie sie heutzutage heißen. Da reicht ein Menschenleben nicht aus, die alle auszuprobieren.«
»Sie probieren die aus?«
»Ja, ich habe bereits vor zehn Jahren damit angefangen. Gleich nach meiner Pensionierung. Ich plane nämlich einen Michelin über Altenwohnheime.«
»Ein zweiter ›Ihr da oben… wir da unten‹ 1?«
»Nicht ganz, ich mach‘ das ja nicht inkognito. Ich erzähle offen, dass ich gerne zur Probe wohnen möchte. Wenn ein Haus daraufhin abwinkt, dann weiß ich, dass da etwas im Argen liegt. So reduziert sich die Zahl schon von allein.«
»Wie lange bleiben Sie in der Regel in einer Einrichtung?«
»Das ist höchst unterschiedlich. Manchmal fliehe ich schon nach einer Woche. Neulich hat mich eine Pflegekraft ‚Pantoffelheld‘ genannt, dann aber keifend das Zimmer verlassen, als ich mit ‚Pippi Langstrumpf‘ dagegen gehalten habe. In solchen Fällen ahnt man, was auf einen zukommt, wenn man sich nicht mehr selbst versorgen kann.«
»Das ist ja spannend.«
»Ja, und manchmal bleibe ich länger als geplant. Wenn zum Beispiel viel Sonnenschein ins Zimmer kommt. Damit meine ich nicht nur die Lage und Helligkeit der Räume, sondern - im übertragenen Sinne - das Pflegepersonal. Sie verstehen schon.«
»Ich verstehe Sie sehr gut«, pflichtete ihm Marco Steger bei.
»Aber letztendlich bin ich auf der Suche. Ich war von jeher ein Reisender, nur die Form des Reisens hat sich halt geändert.«
»Ich bin früher ebenfalls viel gereist, war freischaffender Reisejournalist, was mir gestattete Leidenschaft, Hobby und Broterwerb erfolgreich miteinander zu verbinden, bis…. Aber essen Sie, ihr Essen wird kalt«, unterbrach Herr Steger sich selber.
»Ihrs auch«, sagte Herr Hummer augenzwinkernd. » Guten Appetit! Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
»89 und Sie?«
»75«
Marco Steger war sich nicht sicher, ob er sich über den neuen Bewohner freuen sollte. Ein wenig ärgerte er sich darüber, dass er nicht selber auf die Idee des Heimsurfens gekommen war. Und dennoch, interessant war der Mann auf jeden Fall.
Anjas Dienst war fast zu Ende, als Marga auf sie zustürzte. »Du, es tut mir echt leid, dass ich dich heute Morgen so angepampt habe, aber bei mir geht‘s zuhause drunter und drüber.«
Anja konnte sich nicht so recht vorstellen, wie es bei Marga drunter und drüber gehen sollte, da sie kinderlos, alleinstehend und eine perfekt organisierte Frau war.
»Ist okay, vergiss es. Das kann jedem passieren, dass er mit dem falschen Bein aufsteht.«
Marga sah sie prüfend an. »Sag mal Anja, ich bekomme unerwarteten Besuch von meiner Schwester aus München, könnten wir morgen die Schichten tauschen? Wenn du meine Spätschicht übernimmst, kann ich mich besser um sie kümmern.«
Das war also der Grund für den plötzlichen Gesinnungswandel. Anja verkniff sich ein ›Ach, daher weht der Wind‹, schwieg und schaute Marga nur lange an. Ein wenig zu lange vielleicht, bevor sie sagte: »Meinetwegen« und ging.
Dieser Schichtwechsel passte ihr überhaupt nicht, weil sie sich fest vorgenommen hatte, Phillip mehr im Auge zu behalten. Verflixt, erneut hatte sie ihre eigenen Interessen hintangestellt. Oder war sie schlichtweg zu feige, ›Nein‹ zu sagen?
Auf dem Weg zum Auto kreuzte Emma ihren Weg.
»Sag mal, ist alles okay? Marga hat eben groß heraushängen lassen, wie unkooperativ du wieder seist. Was ist mit euch beiden?«
»Das frage ich mich auch«, sagte Anja, »denn ich habe soeben auf ihren Wunsch hin den Dienst morgen mit ihr getauscht. So viel zum Thema Kooperation und Solidarität.«
»Au Mann, das klingt nicht gut.«
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