Ihr Glas in der Hand stand View eine Weile unschlüssig herum und überlegte, in welches der Grüppchen sie sich einklinken sollte, als einer der Citizens, von denen sie vermutet hatte, dass er zur Agency gehörte, direkt auf sie zusteuerte.
„Kibele2k5?“
Aha, dachte View und nickte, tatsächlich die Agency.
„Sei gemittelt. Schöne Feier hier! Mein Name ist Sonol2ak von der Agency of SocialTechnology. Sicher hast du schon von uns gehört.“
„Natürlich ist mir die Agency ein Begriff.“
„Wir besuchen Initiationsfeiern wie diese hier aus gutem Grund, weil sich uns so eine Gelegenheit bietet, persönlich mit solch hoffnungsvollen Talenten wie dir, die frisch die UniqueSchool abgeschlossen haben, ins Gespräch zu kommen. Hast du Interesse?“
„Wie könnte ich kein Interesse haben? Die Agency ist einer der potenziellen Arbeitgeber, die mir das System mit hoher Wahrscheinlichkeit angetragen hat – aber das weißt du schon.“
„Sicher. Aufgrund deines Profils war das natürlich abzusehen. Aber Genaueres müssen wir hier auch gar nicht besprechen. Widme dich doch wieder deinen Gästen und komm morgen nach der BadPastLesson gegen Takt 54.000 bei uns vorbei. Dann besprechen wir alles Weitere. Den Lead zu meinem Profil und meinen LokalisationPoint habe ich dir bereits übermittelt. Ist das so Okay für dich?“
„Vielen Dank, ja, das werde ich tun“, bestätigte View. „Ich freue mich.“
„Dann also bis morgen“, nickte ihr der Agent noch einmal freundlich zu und verschwand wieder in der Menge.
Doppelgauß, das ließ sich ja ganz wie erwartet an, resümierte View. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde sie also bei der Agency anfangen!
Erst jetzt merkte sie, wie angespannt sie den ganzen Takt über gewesen war. Zwar hatte sie ein Recruitinggespräch in etwa dieser Richtung erwartet, aber eine Realität, die ihre Erwartungen auch tatsächlich eingelöst hatte, war immer beruhigender, als eine lediglich erwartbare Realität, selbst wenn sie eine relativ hohe Eintrittswahrscheinlichkeit hatte.
Views Blick blieb an einem der HoloScreens hängen, die die Szenen aus ihrem LifeStream zeigten. Hier musste sie etwa 12 MajorTakte alt gewesen sein. Sie stand mit der Gruppe ihrer Peers vor einem Gehege im AnimalDrom und bot sichtlich begeistert einem Waschbären, der sie durch seine von dunklem Fell umrandeten Augen zutraulich ansah, auf der flachen Hand eine Portion synthetischer Kerne an. Sie konnte sich noch daran erinnern, selbst auf die Gefahr hin, dass etwas von dem Waschbärnasch herunterfiel, den Hinweis ihres AnimalAdvisors genau befolgt zu haben, dabei die Handfläche keinesfalls zu wölben, damit das AnimalPet nicht auf die Idee kam, an ihren emporgerichteten Fingerspitzen zu knabbern.
View aktivierte den Timer ihres AeroFlats: Takt 3.487. Es war schon spät und sie merkte, dass ihre Energie um den Nullpunkt herumdümpelte. Sie drehte noch eine kurze Runde, um sich bei Freunden und Besuchern ihres InitiationEvents zu bedanken und zu verabschieden und machte sich dann zu ihrem Hexagon auf. Bevor sie das Bewerbungsgespräch mit dem Recruiter der Agency führte, wollte sie ihren Entspannungszyklus voll ausschöpfen. Die Wohnräume innerhalb der einzelnen Habitate waren konzentrisch um den MatchingCube angeordnet und so dauerte es nicht lange, bis sie die Tür ihres Hexagons hinter sich geschlossen hatte, das nur ein kleines Stück den CircuitWalk hinunter lag.
Auf dem großen Screen, der den Raum beherrschte, trat ihr eine mittelgroße Frau gegenüber, unter deren fließendem Gewand sich schlanke Glieder abzeichneten. Unter kaum wahrnehmbaren, wie fragend hochgezogenen Augenbrauen blickten sie leicht oval geschnittene blaue Augen an. Dieser Gesichtsausdruck und die Tatsache, dass sie sich niemals damit begnügte, die Dinge nur oberflächlich wahrzunehmen, sondern überall genau hinsah, um Durchblick zu bekommen, hatten View auch ihren Nickname eingetragen. Sie fand, dass die filigranen Windungen ihrer kleinen, enganliegenden Ohren zu der fast perfekt symmetrisch geformten Wölbung ihres kahlen Kopfes einen wirkungsvollen Kontrast bildeten. Die relativ hoch angesetzten Wangenknochen gaben ihrem Lächeln etwas strahlend Offenes. Mit ihrer Nase dagegen war sie nicht ganz so einverstanden, der vielleicht eine Spur zu breite Sattel erschien ihr ein wenig unvorteilhaft. Auch ihre Lippen waren vielleicht etwas zu schmal, das Kinn vielleicht eine Spur zu weich definiert. Aber all das würde sich gegebenenfalls ändern lassen. Nach einer Phase ziemlich radikaler schönheitschirurgischer Eingriffe sah es aktuell allerdings fast so aus, als würde wie so oft der Trend ins Gegenteil umschlagen und sogenannte natürliche Gesichtszüge gauß werden. Momentan war View mit ihrem Aussehen aber ganz zufrieden. Es diente ihrer Selbstvergewisserung, wenn sie sich zusätzlich zu ihrem Konterfei auf dem Screen noch in den Spiegeln sah, mit denen 3 der 6 Wände des wabenförmig angelegten Raumes versehen waren.
Sie klatschte in die Hände:
„Licht: 500 Lux, flächendeckend, cremeweiß; Geruch: Anis; Musik: Brain-
Smoother von den Averagers.“
Da sie Ordnung, Überschaubarkeit und Klarheit über alles schätze, verfügte Views Hexagon über eine Ausleuchtung, die keine Schattenareale entstehen ließ. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass der Duft von Anis sie in kürzester Zeit herunterbrachte und die Klänge von BrainSmoother taten ihr Übriges. View bevorzugte klare Linien und matte, helle Farben und so hatte sie ihren Raum in den LivingStyles „elementar“, „funktional“, „sachlich“ und „puristisch“ ausgestattet; Kategorien, in denen sie jeweils die höchste von 5 möglichen Merkmalsausprägungen gewählt hatte. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie sich Sonoki3ab, eine ihrer FirstMates, in Styles wie „verschwurbelt“, „versponnen“ und „verschattet“ wohlfühlen konnte. Deren Hexagon war eine von schwach rötlichem Licht erfüllte Höhle, in der nichts an dem Platz zu sein schein, an den es gehörte und allein die Anzeigen auf dem Screen verlässliche Orientierung ermöglichten. Da View und Sonoki aber 95 Prozent ihrer MatchingPoints teilten und so in fast allen anderen Kategorien übereinstimmten, verstanden sie sich trotz dieser unterschiedlichen Auffassung von Wohnen blendend. Das zeigte wieder einmal, welch differenzierte Analyse das System leistete, wenn es Citizens antrug, sich zu matchen.
View teilte ihr Hexagon mit einer MonsteraDeliciosa, deren große Photosyntheseflächen nachgewiesenermaßen halfen, das Wohnklima zu verbessern. Da sie gern die Kontrolle über die Dinge behielt, bereitete ihr ungehemmtes und chaotisches Wachstum Unbehagen und sie versuchte, die Triebe ihres floralen Elementes in eine möglichst zylindrische Form zu binden. Überstehende Photosyntheseflächen stutzte sie regelmäßig zurück, wobei sie darauf achtete, die Luftwurzeln nicht zu beschädigen, da diese der Versorgung dienten.
Für eine MatchingSession war sie jetzt zu müde und wollte gleich auf ihr RestBoard. Sie war sich ziemlich sicher, dass heute nichts vorgefallen war, das gematched werden musste und auch das Screening und Classifying der Rankings, die ihre Peers den Tag über vorgenommen hatten, konnte bis morgen Abend warten. Aber eine möglichst pralle Zirkulationsdusche musste einfach sein. Sie zog sich aus, schlüpfte in die Nasszelle und stellte die 8 Brauseköpfe auf höchste Intensität. Nachdem sie sich von den konzentrierten Wasserstrahlen 2 Intervalle hatte durchprickeln lassen, schaltete sie auf Trocknen und ließ sich von der warmen Luft umschmeicheln. Wie immer nach einem Tag, der ihre Erwartungen mehr oder weniger zuverlässig eingelöst hatte, beschloss die Dusche Views Aktivitätsphase und sie fühlte sich physiologisch optimal auf ihre Regenerationsphase von 7 MacroTakten vorbereitet. Sie fuhr das RestBoard aus der Wand und wählte als Einschlafmodus „sanfte Dünung“. Die Ruhepneumatik versetzte das Board in die entsprechende Bewegung und innerhalb des Medians ihrer Einschlafzeit von 5 MinorTakten sank View in ihren traumlosen Schlaf. Sobald die Sensoren ihres MatchingEyes registrierten, dass ihr Körper in den Ruhezustand übergegangen war, aktivierte sich das in das dritte Auge integrierte Morpheustron, dessen Strahlung dafür sorgte, dass die Citizens ihre Ruhephase optimal nutzten und nicht durch Traumerinnerungen aufgewühlt erwachten.
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