Wie View im Geschichtsunterricht an der UniqueSchool of Averaging gelernt hatte, war das Leben nicht immer so erfüllt und so sicher gewesen. In den Zeiten vor dem Finalen Kataklysmus, als die Community sich dem Takt des Systems noch nicht überantwortet hatte, konnte man nie wissen, was auf einen zukam und wälzte folglich ständig Probleme, hegte weitreichende Vorstellungen und wartete geduldig auf irgendetwas Erhabenes oder Beglückendes, das ebenso groß wie unbestimmt war und ohnedies niemals eintrat.
Jetzt hatte View die School mit einem Score von fast 100 Prozent abgeschlossen und ihr vom System erstelltes Profil im OmniNet würde das Interesse vieler spannender Organisationen wecken, so dass sie aus etlichen Jobalternativen frei würde wählen können. Sie war sich noch nicht restlich darüber im Klaren, welche Richtung sie exakt einschlagen sollte. Aber die Ergebnisse der noch ausstehenden Tests und Auswertungen würden auch ihre letzten Zweifel und Unsicherheiten ausschließen, so dass sie sich hundertprozentig sicher sein konnte, zur richtigen Entscheidung geführt worden zu sein. Die Konturen ihres zukünftigen Lebens waren abgesteckt und vermessen und erstreckten sich klar vor ihr wie das feste Band der AntiGrav, über die die Verkehrs- und Warenströme der Urb verliefen.
„Na, alles im Mittel?“, zog Siema27#X, eine von Views FirstMates, sie auf die Seite. „Wie findest du mich?“ fragte sie mit einem triumphierenden Grinsen, reckte den rechten Arm in die Höhe, winkelte die Hand ab und deutete mit dem Zeigefinger von oben auf ihren Kopf, während sie sich um die eigene Achse drehte.
Siema surfte immer auf dem Kamm der höchsten Welle dessen, was gerade gauß war. Aktuell waren das die CoatingColours. Siema schillerte in allen 7 Farben des Regenbogens, dessen Streifen sich ohne Unterbrechung gleichermaßen über ihre Kleidung, die textilfreien Hautpartien an Händen, Armen und Ausschnitt, ihr Gesicht und ihre Kopfhaut zogen.
„Wie hast du das denn hinbekommen?“ erwiderte View anerkennend.
„Neue Produktlinie von EpidermaSoft und SecondSkin. Du ziehst ein spezialbeschichtetes weißes Suit an, gewissermaßen als Grundierung ‒ und da gibt es einiges an Auswahl ‒, gehst dann zu einem ColourPoint, schlüpfst in die Kabine, wählst ein Motiv, machst die Augen zu und bekommst es dann nahtlos auf die Klamotten und dein Astralkörperchen appliziert. Funktioniert ungefähr so wie eine Rundumdusche, in der du das Ganze dann übrigens abends auch wieder abspülen kannst.“
„Das ist auch gut so, sonst würdest du morgens wahrscheinlich aussehen wie ein zerlaufenes Ganzkörpermakeup“, lachte View.
„Hab dir und den Mates den Lead zu den Produktsites schon geschickt“, informierte Siema und verschwand wieder zwischen den Leuten, um sich bewundern zu lassen.
View ließ ihren Blick über die bunte Vielfalt im Saal schweifen. Siema war eindeutig der Paradiesvogel und würde wahrscheinlich wie schon so oft wieder einmal Trendsetterin sein.
Da waren etwas abgehoben wirkende Gestalten in grauen Overalls mit dem Emblem der MaAd auf der Brust; zwei senkrecht aufgestellte Handflächen, die zu einem HighFive ansetzten und durch eine Spiegelung in einer langen Kette von HighFives ins Unendliche zu laufen schienen. View hatte dieses Emblem der MatchingAdministration immer als etwas unpassend empfunden. Die „Matchies“, wie sie genannt wurden, waren als kühle Techniker und akribische Verwalter eher nicht für ihre Temperamentsausbrüche bekannt. Wahrscheinlich versuchte man durch das Symbol der HighFive die Akzeptanz und Attraktivität der Administration in der Öffentlichkeit zu erhöhen.
In der MatchingAdministration liefen sämtliche Datenströme der Urb zusammen. Diese LegionBytes an Daten wurden auf der Basis von auf molekularer Ebene codierter und dann synthetisierter DNA in gigantischen Datenbanken gespeichert und für den Zugriff der verschiedensten Stellen und Dienste aggregiert. Wer hier arbeitete, nahm zum Frühstück wahrscheinlich codierte DNA-Sequenzen zu sich, um die darin gespeicherten Informationen im Falle eines Systemausfalls jederzeit abrufbereit zu haben. Das war nicht Views Ding, denn das System hatte ihr stark ausgeprägte Empathiefähigkeiten und einen hohen Wert in emotionaler Intelligenz ausgewiesen und daher wollte sie nicht mit Daten, sondern mit realen Menschen arbeiten. Das Betätigungsfeld der Matchies betraf dagegen immer nur den digitalen Abdruck der Realität, auch wenn View natürlich klar war, dass der in der Administration geschärfte Abdruck dann wiederum der Realität seinen Stempel aufdrückte.
Völlig anders dagegen lagen die Dinge bei der Agency of SocialTechnology, die stets von der Aura des Geheimnisvollen umgeben war. View war zwar bekannt, dass hier die LifeScripts aller Citizens, ihre sämtlichen Ratings und Rankings sowie die der Mates ihrer jeweiligen SocialUnits ausgewertet und daraus dann Psychogramme und die entsprechenden MatchingPoints abgeleitet wurden, aber wie das im Detail ablief und was hier noch so alles abging, konnte sie nur vermuten. Ganz offensichtlich an der Arbeit der Agency war nur, dass von Zeit zu Zeit deren Scouts auftauchten, viele Fragen stellten oder als stille Beobachter aus einer Ecke heraus das Geschehen mit Argusaugen verfolgten, um dann wieder zu verschwinden. So konnte View auch jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit ausmachen, wer von den Citizens im Raum ein Scout der Agency war. Nicht an der Kleidung, denn die Agents passten ihr Outfit in der Regel dem des Umfelds an, in dem sie gerade tätig waren, wohl aber an ihrem Verhalten: Diejenigen, die sich intensiv mit anderen unterhielten, dabei aber oft die Gesprächsgruppen wechselten, um möglichst viele Eindrücke zu gewinnen, mochten Scouts der Agency sein.
View tauchte in der Menge ihrer Mates und Buddies unter und steuerte auf das Buffet zu, um sich mit einem SurpriseDrink auszustatten. Dieses von der EventFactory neu entwickelte Getränkekonzept beruhte darauf, dass der unbedarfte Flüssigkeitsliebhaber aus den unterschiedlichsten Zutaten, die nicht im Detail, sondern nur in Form allgemeiner Geschmacksrichtungen oder ihrer erwartbaren Wirkung ausgewiesen waren, sein ganz individuelles Getränk zusammenstellte. Das Areal der SurpriseDrinks nahm auf dem Buffettisch eine erstaunlich große Fläche ein.
In Fächern mit Beschriftungen wie süß, sauer, salzig, fruchtig, bitter, aromatisch, pfeffrig, klebrig, perlend oder belebend, beruhigend, aufwühlend, nachdenklich stimmend, euphorisierend und vielen mehr lagen unscheinbare Aluwürfel, die lediglich die entsprechende Kategorie, eine Mengenangabe und – wenn vorhanden – den Alkoholgehalt oder den einer anderen Droge aufwiesen. Außerdem gab es da Korrelationen, die View bislang noch nie mit einem Getränk in Verbindung gebracht hatte: Pelzig-samtig, trocken-sandig, langsam-sackend, feurig-stürzend, quälend-ziehend, kurzlebig-wuchtig, nachhaltig-erstaunlich etc. Angesichts der Jobanbahnungsgespräche, die sie hier noch führen würde, beschloss sie, um die Zutaten mit Prozentangaben einen weiten Bogen zu machen. Auch das Fach mit dem Hinweis „?!“ mied sie geflissentlich. Nachdem sie spontan etwa 10 Aluwürfel mit der Beschriftung nach oben auf ein Tablett gelegt hatte, ordnete sie diese in 3 Gruppen an, legte einige Würfel zurück und ersetzte sie durch solche, die ihr passender erschienen. Mit ihrer Komposition zufrieden, schob sie die Aluwürfel nacheinander in die Aufnahmeöffnung des Mixers und betätigte den Startknopf. Das Gerät heulte kurz auf und entließ dann eine schäumende Flüssigkeit undefinierbarer Farbe in das unter dem Ausguss stehende Glas. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck.
Uh, auf diese Geschmacksexplosion war sie nicht vorbereitet, fruchtig und dabei süß und pfeffrig zugleich. Gar nicht übel eigentlich, nur sehr ungewohnt, aber vielleicht gerade deshalb interessant genug, um sich schwarz auf weiß ausdrucken zu lassen, welche Ingredienzien genau sie sich da in welchem Mischungsverhältnis zusammengerührt hatte. So konnte sie die Mixtur bei einer späteren Gelegenheit exakt reproduzieren. Einen passenden Namen dafür hatte sie auch schon: SecureFuture. Ganz sicher mit dieser Benennung war sie sich allerdings nicht. Vielleicht erlebte sie ja bezüglich der Kategorie „nachhaltig-erstaunlich“ noch eine böse Überraschung, doch vorerst ging es ihr sehr gut.
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