An diesem Abend wurden anlässlich ihrer Initiation als gemittelte AveragedCitizen der Community die KeyVisuals vorgestellt, die das System als maßgebend für Views Werdegang ermittelt hatte. Neben ihrem MatchingAdvisor, ihren CustomBuddys und etlichen Vertretern der Agency of SocialTechnology und der MatchingAdministration hatten sich auch alle ihre Mates 1st-step, etliche 2nd- und 3rd-step und sogar jemand 4th-step im MatchingCube ihres Habitats versammelt.
In dem weiten, dämmerigen Raum flackerten auf holografischen Säulen Schlüsselszenen aus Views bisherigem Leben: View als Embryo im NucleusTank zusammengekauert, zum ersten Mal den Daumen in den Mund führend. View zwischen den Labien des BirthSimulators heraus ins Leben gepresst. View mit gespitzten Lippen in seliger Selbstvergessenheit an der LactoCare saugend. View erstmals ihr MatchingEye fixierend und mit den Augen verfolgend. View ihre ersten Labiallaute bildend. View, der sich ein erstes Lächeln ins Gesicht stiehlt. View die ersten taumelnden Schritte wagend. View bei ihrer ersten selbstständigen Defäkation auf dem AquaCleanAbsorber. View mit vor Konzentration zusammengepressten Lippen ihren ersten Kopffüßler malend. View mit leuchtenden Augen während ihres ersten SozioEmpathischen Trainings im CorporateGrowthCenter mit ihren Peers. View bei ihren ersten Schritten in den digitalen Weiten des OmniNets. View in verschiedenen Unterrichtssituationen während ihrer Zeit auf der UniqueSchool of Averaging. View mit glänzenden Augen und vor Erregung geröteten Brüsten während ihres ersten SexDatings im LoveGym mit Hatrico7C7. View in ihrer allabendlichen MatchingSession beim Screenen ihres DayStreams die Erlebnisse ihres Tages kategorisierend.
View fand es aufregend, so buchstäblich im Blickpunkt zu stehen. Sie schlenderte von Grüppchen zu Grüppchen, begrüßte hier jemand, den sie lange nicht outNet gesehen hatte, wechselte dort ein paar Worte und versuchte im Allgemeinen, einen guten Eindruck zu machen, denn während solcher Initiationsfeiern waren in der Regel Recruiter von Firmen und Organisationen anwesend, die einem spannende Jobangebote machten. Sie rechnete mit hoher Wahrscheinlichkeit damit, von einem Recruiter der Agency of SocialTechnology angesprochen zu werden.
Trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von den Szenen ihres LifeScripts abwenden. Bislang war ihr immer nur der Stream ihrer jeweils aktuellen Entwicklungsperiode zugänglich gewesen und nun rauschte ihr Leben erstmals im Gesamtzusammenhang an ihr vorbei. Manches war schon so lange her, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte oder es völlig aus ihrem Bewusstsein verschwunden war. Neben vielen verschwommenen Eindrücken und Empfindungen, die die Szenen aus ihrer frühen Kindheit in ihr auslösten, stieg plötzlich ganz unmittelbar und eindringlich das Gefühl von Sicherheit und Angekommensein in ihr hoch, das sie nach ihrem ersten SozioEmpathischen Training erfüllt hatte.
Sie musste etwa 5 gewesen sein, als ihr Betreuer einen beim ProductMemory ausgebrochenen Streit zum Anlass nahm, alle 8 Kinder des Samples der GenKohorte327XK4, mit denen View im CorporateGrowthCenter täglich zusammen war, zur Unterweisung zu schicken:
„Ihr seid jetzt alt genug, um zu begreifen, warum es immer wieder zu solchen Zankereien kommt und morgen werden wir lernen, was wir machen können, damit dies in Zukunft nicht mehr so ist.“
Am nächsten Tag war dann ihr MatchingAdvisor gekommen und die Kinder hatten sich mit ihm in einen Kreis gesetzt und er hatte sie gefragt:
„Wenn ihr euch aussuchen könntet, eine Frucht zu sein, welche würdet ihr dann sein wollen? Wenn ihr gewählt habt, bekommt ihr jeweils einen Sticker mit dieser Frucht auf euer Shirt.“
Die bekanntesten Lieblingsfrüchte waren schnell gefunden und in denjenigen Fällen, wo mehrere Kinder etwa einen Apfel oder eine Birne wollten, wurden die Sticker einfach nummeriert, um eine eindeutige Identifikation mit ihrem Träger zu ermöglichen. View meinte sich zu erinnern, nach langem Zögern eine Kiwi gewählt zu haben, weil sie mit dieser Frucht bestimmt keinem anderen Kind in die Quere kommen würde. Sie war stets auf Sicherheit bedacht, wollte sich keine Blöße geben, da sie die Reaktionen ihrer Peers nie abschätzen konnte. Sie war in der Gruppe die Außenseiterin, schwamm immer nur ganz am Rande mit, ängstlich darauf bedacht, weder völlig abzudriften noch in den Strudel der Aktivitäten gezogen zu werden, in dem sie fürchtete unterzugehen. Sie fühlte sich immer fremd und war in der Gruppe niemals völlig entspannt.
„Was mögt ihr denn an euren Früchten besonders und was eher nicht? Wie sollten sie sein und wie eher nicht?“, verfolgte der Advisor seine Strategie weiter und entwickelte mit den Kindern die Gegenpole von süß und sauer, weich und hart, knackig und laff, fruchtig und herb, reif und unreif etc. Für jeweils eine dieser Dichotomien mussten die Kinder sich dann entscheiden, um die tendenziell positive oder negative Befindlichkeit ihrer Frucht zu charakterisieren. Und auch hier gab es dann die entsprechenden Sticker: Zuckerwürfel und Zitrone für süß und sauer, Kissen und Stein für weich und hart, ein prall-grünes und ein runzlig-gelbes Salatblatt für knackig und laff etc. Auch diese Sticker brachten die Kinder an ihrem Shirt an, das jeweils eher negativ besetzte Attribut aus Sicht des Betrachters links und das eher positiv Besetzte rechts neben ihrer Frucht.
„Ich möchte, dass ihr diese Sticker in Zukunft immer tragt und euch morgens immer fragt, wie ihr euch als eure Frucht fühlt, wie ihr riecht, wie ihr schmeckt, wie ihr ausseht“, entließ sie ihr Advisor. „Gut oder schlecht, knackig oder laff, süß oder sauer? Und wenn ihr eure Wahl getroffen habt, macht ihr die Smileys und Grumpies, die ich euch jetzt austeile, rechts oder links an eure Frucht. Einen Smiley rechts, wenn ihr euch eher gut fühlt und mit den anderen etwas machen wollt und einen Grumpie links, wenn ihr euch eher schlecht fühlt und wollt, dass die anderen euch vorsichtig behandeln. Wenn ihr euch nicht entscheiden könnt, ist das nicht schlimm, dann lasst sie einfach weg. Aber dann können die anderen nicht wissen, wie ihr euch fühlt, und behandeln euch vielleicht falsch.“
View gehörte zu denen, die morgens immer ihren Smiley oder Grumpie setzten und sie hasste es, wenn andere sich nicht entscheiden konnten. Endlich war sie mit ihren Gefühlen nicht mehr völlig auf sich zurückgeworfen, war aus dem Sumpf ihrer Innerlichkeit gezogen, der sie von den anderen isoliert hatte. Sie musste nicht länger befürchten, nicht verstanden zu werden oder unangemessen zu reagieren. Sie legte ihre Befindlichkeit und ihre Gefühle offen und im Gegenzug offenbarten sich die anderen ihr. So konnte es weniger zu Missverständnissen und Animositäten kommen. Und das Setzen der Smileys oder Grumpies geschah nicht etwa nur nach Lust und Laune der Kinder, sondern war vom MatchingAdvisor und den anderen großen Citizens ausdrücklich erwünscht und verbindlich gemacht worden, so dass die Kinder überzeugt davon waren, das Richtige zu tun. Falls Views Befindlichkeit sich tagsüber einmal nicht so entwickelte, wie sie es morgens angezeigt hatte ‒ und das war eigentlich oft der Fall ‒ bemühte sie sich trotzdem, sich so zu fühlen oder zumindest so zu geben, um den Erwartungshaltungen ihrer Peers zu entsprechen und sie nicht ins Leere laufen zu lassen. Damit lagen die sonst so komplizierten zwischenmenschlichen Dinge nun zum Greifen offen. View hatte endlich Verhaltenssicherheit erlangt und binnen weniger Wochen dümpelte sie nicht mehr im Brackwasser am Rande ihrer Gruppe, sondern stand in deren Zentrum.
Vergaußt und gemittelt, waren diese Zeiten schon lange vorbei, lächelte View in sich hinein. Anstelle der Unsicherheit und des Gefühls des Verlorenseins, die ihre ersten Lebensjahre geprägt hatten, waren Sicherheit und Berechenbarkeit getreten und heute bereiteten ihr ihre SocialRelations keinerlei Probleme mehr. Das System hatte ihr auf der Basis von identischen oder kompatiblen MatchingPoints jede Menge Mates zugewiesen, mit denen sie eine Grundgesamtheit bildete, deren Mitglieder mit ihren übereinstimmende Features und Merkmalsausprägungen aufwiesen oder solche, die sich sinnvoll ergänzten. Ihr gesamtes gesellschaftliches Leben spielte sich innerhalb dieser SocialUnit ab und sie genoss es, rund um den Takt eine Gruppe von Peers zu haben, mit denen sie ihre Interessen, Ideen, Wünsche und Vorlieben passgenau teilen und auch weiterentwickeln konnte. Jede Minute ihrer Zeit war getaktet und verplant. Sie war es gewohnt, ständig aktiv zu sein, Dinge zu machen und Spaß zu haben. Wie alle anderen Citizens auch genoss sie jederzeit schnelle und konkrete Verwirklichung im Hier und Jetzt. Alles war berechenbar und umgeben von Services und Produkten, die ganz unmittelbar Nutzen und Vergnügen stifteten, waren die Menschen in ein absehbares und verlässliches Gefüge von Abläufen und Aktivitäten eingebettet.
Читать дальше