Bernd Boden - Dismatched - View und Brachvogel

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Freiheit und Schicksal mit der Chance auf Glück oder Berechenbarkeit und Sicherheit in garantiertem Mittelmaß?
Zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten:
Die Urb: Nach dem Finalen Kataklysmus haben sich die Menschen bedingungslos dem Takt des Systems überantwortet und führen ein absolut gleichförmiges Leben in totaler Berechenbarkeit und Absicherung. Ein individuelles Schicksal ist weder erwünscht noch möglich.
Unter dem Diktat einer rationalen WirtschaftsSozialität sind die gemittelten Citizens Inputgeber für das autarke und verselbstständigte System. Jegliches Verhalten, das vom Mittelwert des SocialScore abweicht, wird sanktioniert und ausgemerzt.
Die Klave: Angesichts der Schrecken der Großen Verderbnis haben die Mütter gemäß der Weisung der Großen Mondin ein ÖkoMatriarchat errichtet und führen die Mannlinge, deren Ungestüm und geradliniges Denken die Welt an den Rand der Katastrophe gebracht haben, mit strenger Hand. Der Zeugungsträger Brachvogel will die engen Kreisläufe der Klave durchbrechen und den offenen Horizont gewinnen.
Als aufstrebende Scout der Agency of SocialTechnology recentert View Abweichler, Dismatchte, die aus dem Mittel gefallen sind. Die Konturen ihres perfekten Lebens sind quantifiziert und vermessen und erstrecken sich klar vor ihr wie das feste Band der AntiGrav, über das die Verkehrs- und Warenströme der Urb verlaufen. Doch als sie während ihrer nächtlichen Regenerationsphase die ersten Träume hat und ihr Bücher zugespielt werden, die ein gänzlich anderes Leben vorstellbar machen, beginnt sie, allmählich aus dem Takt zu fallen.
Aber als angepasste und verhaltensgemittelte Citizen völlig in den digitalen Kokon aus Komfort, Sicherheit und Absehbarkeit ihres Lebens eingesponnen, ist es für sie zunächst unmöglich, ihre Karriere aufzugeben und die Seiten zu wechseln.
Erst die Traumschiffer der Oneironauten, die Begegnung mit Diver, dem dichtenden cerebralen Cyborg und die Liebe zu Brachvogel, dem Mannling aus der Klave der Mütter, zwingen sie, eine Entscheidung zu treffen …

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An Esthers Aktivität in den Reihen der „Nauten“ war indes nichts Umstürzlerisches. Sie war es gewohnt, allnächtlich mit ihrem DreamKey die Funktion ihres „Trons“ zu überlagern, so dass sie sich an ihre Träume erinnern würde. Sie war es ge­wohnt, Bücher zu lesen. Sie wollte ihre tiefe Freude am Träumen und Lesen und die Fülle der Möglichkeiten, die sich ihr darüber eröffneten, an andere Citizens weitergeben. Sie wollte diesen Erfahrungen, die ihr der Schlüssel für eine sinnvolle Begründung ihrer Existenz zu sein schienen, nicht im Geheimen nachgehen müssen, sondern sie offen mit anderen Citizens teilen können. Vergaußt, was könnte nicht alles daraus erwachsen, wenn nicht mehr das Mittel, sondern jeder sein eigener Maßstab wäre? Wie würde es sein, wenn dann wie in Träumen und Büchern das Leben nicht mehr berechenbar wäre? Eine Vorstellung, die sie gleichermaßen ängstigte wie faszinierte. Letztlich aber hatte sie nichts zu verlieren. Seit sie Bücher las und sich an ihre Träume erinnerte, war ein Leben unter dem Takt des Systems nicht mehr lebenswert. Je mehr Citizens aus dem Takt fielen, umso besser konnten die Dinge nur werden. Und genau diesen Zweck verfolgte ihre aktuelle Aktion.

Esther war auf ihrem Ground eine Sektion zugeteilt worden, in der Mor­pheus­tronDisrupter positioniert wurden, die ihrerseits die Strahlung der Trone überlagerten und unschädlich machten. Damit sie unentdeckt blieben, waren Stärke und Reichweite der Disrupter eng begrenzt, doch würde sich in ihrem Einflussbereich, einem Radius von etwa 300 Meter, ein hoher Prozentsatz von Citizens an ihre Träume erinnern.

Die Disrupter waren so flüchtig wie die Träume selbst. Jeden Abend brachten wechselnde Nauten ihre Saat aus, die sich bis zum Morgen selbst zerstörte. Eine in jeden Disrupter eingekapselte Säure fraß sich innerhalb der Einsatzzeit von 8 MacroTakten durch eine Membran und löste die Elektronik restlos auf; zurück bleib nur eine unverdächtige Kunststoffhülle, wie sie für die Verpackung vieler EnergizerPops üblich war. Dabei störten die Disrupter nicht die Funktion der Morpheustrone, denn das hätte sofort einen Alert ausgelöst, sondern überlagerten lediglich deren Wellen, die verhinderten, dass sich die Citizens an ihre Träume erinnerten.

Strategie der Oneironauten war es, möglichst viele Citizens durch dauerhafte Traumerlebnisse derart zu irritieren und in MatchingLoops zu treiben, dass möglichst viele SocialUnits destabilisiert wurden. War hier dann eine kritische Masse von Dismatchten erreicht, die sich bewusst für einen DreamKey entschieden hatten, war das die Basis, um das System und seine Agenten lahm zu legen. Doch vorerst blieb das lediglich eine kühne Vision.

„Es gibt Träume, die uns in der Nacht widerfahren und über die Maßen staunen lassen. Diese begründen die Hoffnung auf ein besseres, menschengerechteres Leben. Und es gibt Träume, die den Stoff von Visionen bilden, die wir wahr werden lassen müssen, um auf diesem Fundament eine neue Gesellschaft zu errichten“, waren die Worte Kassandras.

Noch aber waren die Zellen aktiver Oneironauten dünn gesät und die Kapazitäten, die erforderlichen, immer größeren Mengen von Disruptern herzustellen, nahezu ausgeschöpft.

Wegen der geringen Reichweite musste Esther, um einen möglichst großen Einflussbereich abzudecken – und das wollte und sollte sie auch – viele Disrupter ausbringen. Die 50 Störeinheiten von der Größe einer Energizerpille, die sie mit sich führte, würden es etwa 2.500 Citizens ermöglichen, sich morgens über ihre Träume zu wundern. Um statistisch auffällige Häufungen von verändertem Verhalten innerhalb eines zusammenhängenden Gebietes zu vermeiden, wurden die Disrupter in zufallsbestimmten, weit auseinander liegenden Sektionen positioniert. Sie hatte also eine große Runde vor sich.

Damit ihr Weg nicht auf direkter Linie zurückverfolgt werden konnte, entfernte Esther sich langsam von ihrem Hexagon, wechselte ständig die Richtung, tauchte immer wieder in Gruppen von Citizens unter und fuhr dann eine Strecke mit der AntiGrav etwa in die Mitte ihres Operationsgebietes. Von hier ging sie sternförmig vor und arbeitete systematisch Cluster von Gebieten ab, die auf möglichst kurzem Wege zu Fuß, mit dem Hover oder der „Grav“ erreichbar waren. Auf dem CircuitWalk eines Habitats konnte sie mit wenigen Disruptern möglichst viele Citizens, die einander Face-to-Face kannten und zu einem hohen Prozentsatz sogar Mates ein und derselben SocialUnit waren, direkt in ihren Hexagons erreichen. Die Habitate waren die Hotspots, die Inkubatoren der Wandlung von der System- in die Traumzeit. In Geschäfts- oder Bürovierteln – viele Citizens übernachteten regelmäßig an ihrem Arbeitsplatz – war die Trefferquote dagegen geringer. Aber auch hier war die Streuung einer gewissen Quote von Disruptern sinnvoll, denn die Citizens, die nach einem langen Arbeitstag ihre knappe Ruhephase in einer der am Arbeitsplatz zur Verfügung stehenden NappingCells verbrachten, würden die Saat der Träume punktuell in sämtliche Bereiche des Grounds oder gar in die gesamte Urb tragen. Hier lag das Zufallsmoment der Wandlung, von dem sich die Oneironauten mit der Zeit eine exponentielle Weitung ihrer Aktivitäten versprachen.

Esther konnte ihre Disrupter nicht einfach irgendwo auslegen. Zu groß war die Gefahr, von einer Kamera erfasst oder einem Citizen beobachtet zu werden. Und würde ein Disrupter entdeckt, bevor er sich selbst zerstört hatte, musste das Untersuchungen nach sich ziehen, die die Oneironauten gefährden konnten. Deshalb waren die Disrupter auf molekularer Ebene nanotechnisch mit einer Haft- und Mimikryschicht ausgestattet. So hielten sie auf jedem Untergrund, nahmen Farbe und Textur jeder Oberfläche an und konnten mit einer knappen Handbewegung überall dort angebracht werden, wo sie nicht auffielen. Zwar waren sämtliche Oberflächen der Urb antiseptisch glatt und wiesen weder Simse noch Überkragungen auf, doch gab es an den Anschlusstellen von Verblendungen und Deckplatten immer wieder Dehnungsfugen, Ritzen und Spalten, in die die Onei­ronauten ihre Saat säen konnten.

Nachdem ein „Naut“ einmal im AnimalDrom beobachtet hatte, wie äonenalte Echsen, die, wie ihnen wohl vorgegeben war, auch den Finalen Kataklysmus überlebt hatten, senkrecht die Wände ihres Biotops hoch liefen und sich dabei der Farbe des jeweiligen Untergrundes anpassten, hatte sich für das Ausbringen von Disruptern der Begriff „Geckos Kleben“ eingebürgert. Und selbst die dumpfen Reptilienhirne der prähistorischen Echsen mochten Botschaften bergen, die der erstarrten Citizenship der Urb hilfreich sein konnten, die Fesseln von Mittelung und Marketing zu sprengen.

Mit einem Kreisumfang von 1.500 Metern bog sich jetzt vor Esther der gigantische Circuit des Wohnbereichs der School of PoliticalIndoctrination, an den die Hexagons von etwa 300 Anwärtern für eine Stelle bei der gleichnamigen Authority grenzten. Um psychologisch besser vereinnahmt werden zu können, wohnten diese in dem gleichen Gebäude, in dem sie auch trainiert und geschult wurden. Inzwischen hatte Esther erfolgreich 39 „Geckos“ für ihr nächtliches Treiben freigesetzt, sich beruhigt und würde wohl auch ohne die Fake-Schleife, die in ihrem Dritten Auge lief, keinen Alarm mehr auslösen. Sie war fast ausgelassener Stimmung: „Wohlan denn ... “ – das war eine Floskel, die sie in einem der alten Bücher gelesen hatte – „Geckos Kleben!“ Ihre kleinen Tierchen würden schon dafür sorgen, dass die angehenden „PolitIndocs“ morgen früh etwas zum Staunen hatten, das sie vielleicht von ihrem vorgezeichneten Weg abbrachte.

„In den Zeiten vor der Übernahme des Taktes durch das System konnten die Menschen ihres Lebens nie sicher sein.“

„Die Sicherheit aller dominiert die Freiheit Einzelner.“

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