„Kennt ihr Mea7y2? Der ServiceTrend ihrer SocialUnit geht signifikant in Richtung Convenience-Food. Die rühren in ihrer Küche keinen Finger, bestellen sich alles fertig ins Habitat. Übrigens soll da PleasureMeal.Inc. gauße Sachen haben. Die erwärmen sich, nachdem du die Folie aufgerissen hast, durch die Zufuhr von Sauerstoff von selbst. Aber egal. Jedenfalls fing diese Mea auf einmal an, selber Sachen zu kochen. Also ich hätte das ja nicht essen wollen. Und was soll das überhaupt? Entweder ich bin in einer Unit, die kocht oder in einer, die Fertiggerichte mag. Und wenn man unterschiedliche Fertiggerichte mag, ist das ja auch in Ordnung. Produktvielfalt soll ja sein. Aber so was? Wie will die je mit ihrem BuyingGuard klarkommen und durch eine einigermaßen stringente Einkaufsbiografie ihr Psychogramm optimieren, wenn sie gegen den Trend der eigenen Unit angeht und sich in solch grundlegenden Merkmalsausprägungen nicht mit ihren Mates matcht?“
Esther wandte sich ab. Sie konnte und wollte das alles nicht mehr hören. Früher war es auch für sie megagauß gewesen, völlig in dieser kurzlebigen und oberflächlichen Welt des Marketing im künstlichen Kosmos der Produkte aufzugehen. Doch nach ihrem ersten Traum war sie immer öfter „aus dem Takt gefallen.“ Was geschah mit ihr? Woher kamen diese Bilder, Gefühle, Eingebungen, Eindrücke und Gesichte, die sie stärker berührten als alles, was sie bisher gesehen und erlebt hatte? Je intensiver sie die verlockenden Verheißungen ihre Träume umschmeichelten, desto eindrücklicher setzte sich die Ahnung in ihr fest, hier aus völlig unbekannten Tiefen von etwas berührt zu werden, das sie weiter bringen würde, als sämtliche gaußen Trends, Produktinnovationen und lebenserleichternden Services zusammen. Die Jagd von Innovation zu Innovation glich immer mehr einem auf Hochtouren betriebenen Leerlauf. Als sich die Erfahrung des Träumens dann verstetigte und es ihr gelungen war, ihre Traumbilder bewusst festzuhalten und mit ihrem Alltag zu kontrastieren, war in ihr die Erkenntnis gereift, dass ihr Bestreben, immer im signifikanten Trend ihrer SocialUnit mit zu schwimmen, ihr zwar ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit vermittelte, sie letztlich aber dazu verurteilte, auf der Stelle zu treten. Die Mittelung nahm ihr nicht nur die Verantwortung, eigenständig zu sich selbst zu finden, sondern verstellte ihr ganz grundsätzlich den Weg dazu.
Diese Einsicht ging mit einer existentiellen Verunsicherung einher. Da sie mit niemandem über ihre Träume und die Irritationen, die sie in ihr auslösten, reden konnte, fühlte sie sich zunehmend getrieben, Votings abzugeben, Wahlen zu treffen und Kategorisierungen vorzunehmen, die von ihrem bisherigen Verhalten und vom Mittel ihrer SocialUnit abwichen. Immer öfter wurde sie von ihren Mates in MatchingLoops eingebunden und ehe sie sich versah, drohte sie völlig abzudriften, ohne jedoch den neuen Weg, den ihr ihre Träume zu weisen schienen, konkret beschreiten zu können.
In dieser Situation waren die Oneironauten an sie herangetreten und sie war glücklich gewesen, endlich eine Orientierung gefunden zu haben und hatte sich, mit allem, was ihr noch geblieben war, auf die Vision der Traumzeit eingelassen.
Neben dem Träumen und der nun von berufener Seite angeleiteten Beschäftigung mit ihren Gesichten erfuhr Esthers Leben durch die Oneironauten eine weitere Bereicherung: Bücher lesen! Die ihr von den Oneironauten zugänglich gemachten alten Bücher aus der Zeit vor dem Finalen Kataklysmus zu lesen, erwies sich als pure Wonne für ihr vom Marketing schaler Angebote ausgetrocknetes Herz. Die Botschaften, die ihr längst vergangene Menschen ins Hirn raunten, deren Schicksal noch nicht dem unerbittlichen, alles Lebenswerte verdrängenden Systemtakt überantwortet war, erschlossen ihr Welten, die denen, derer sie im Traum teilhaftig wurde, in nichts nachstanden. Esthers bevorzugte Fake-Schleifen in die Traumzeit waren Auszeiten des Lesens und sie arbeitete nun bewusst daran, ihrem Gefühl, „aus dem Takt gefallen zu sein“, eine konstruktive Richtung zu geben. Wenn sie las oder wie die antike Göttin der Erinnerung, Mnemosyne, im Refugium der Oneironauten der gleichnamigen Salzwasserlösung des Traumtanks entstieg – „etwas entsteigen“, auch so ein Wort, das sie im Lesen kennen gelernt hatte – erfuhr sie Dinge über sich und das Leben, die ihr unter dem Diktat der Mittelung nie zugänglich geworden wären.
Wie betonte Kassandra immer:
„Das stählerne Gehäuse hundertprozentiger Berechenbarkeit und Sicherheit betrügt uns um jede Möglichkeit herauszufinden, wer wir wirklich sind und vor allem, wer wir sein könnten. Die Mittelung stutzt unser Potential auf konfektionierbare Normgrößen zurück und die allgegenwärtige Beobachtung durch die Agenten des Systems legt sich wie Mehltau über unser Leben. Erst Träume zu träumen und Bücher zu lesen öffnet uns die Pforten zu unserem wahren Sein.“
Die ersten Generationen von Citizens in den Anfängen der Urb hatten noch Bücher gekannt und sie hatten auch geträumt und sich an ihre Träume erinnert. Mit zunehmendem Erstarken des Systems aber war irgendwann der Punkt erreicht, an dem die meisten Bücher den systematischen Cleanings zum Opfer gefallen waren und die damals noch nicht mit den MatchingEyes verschmolzenen Morpheustrone die Erinnerungen an die nächtlichen Träume flächendeckend abgeschnitten hatten. Einige Generationen weiter hätte der bei weitem überwiegende Teil der Citizens auf die Frage, was sie gerade lasen oder ob und was sie letzte Nacht geträumt hatten, mit völligem Unverständnis reagiert.
Doch waren das Träumen und seine Symbole viel zu tief im evolutionären Erbe und dem kollektiven Unbewussten der Menschen verwurzelt, als dass sie innerhalb weniger Generationen unter dem Takt des Systems hätten ausgerottet werden können. Und so konnten die Morpheustrone nicht das Träumen als solches verhindern, sondern lediglich die Alphawellen stören, die zwischen den unbewussten und bewussten Hirnarealen der Träumenden vermittelten, und so einen undurchsichtigen Firnis über die Träume legen, der die morgendliche Erinnerung daran verblassen ließ. Diesen Firnis zu zerreißen, hatten sich die Oneironauten zur Aufgabe gemacht.
Citizens, die sich am System vorbei mit dem beschäftigten, was sozial nicht erwünscht und unter dem Systemtakt nicht möglich war, hatte es natürlich immer schon gegeben und es ließ sich im Detail nicht mehr nachvollziehen, wann und wie die Gruppierung der Traumschiffer konkret entstanden war. Lange Zeit waren die Oneironauten lediglich ein mehr oder weniger loser Zusammenschluss von Citizens gewesen, die unter welchen Umständen auch immer, Bücher gefunden und gelesen hatten oder den Manipulationen der Morpheustrone nicht erlegen waren und sich an ihre Träume erinnern konnten. Es gab Citizens, die im Kreise weniger eingeweihter Mates mit ihren Traum- und Leseerlebnissen kokettierten, für die ein Traum oder ein Buch aber letztlich ein Angebot unter vielen war, das ihnen nicht mehr bedeutete als ein Besuch in den SensualCaves oder im LoveGym. Es waren aber auch echte Outcasts darunter, die sich, völlig fasziniert von der neuen Welt, die sich ihnen da erschloss, gänzlich vom System losgesagt, ihr MatchingEye deaktiviert hatten und als Solisten dauerhaft in den Untergrund abgetaucht waren.
Mit der unaufhaltsam fortschreitenden Entfremdung der Menschen von ihren Ursprüngen war in diesen Kreisen dann zunehmend das gesellschaftliche Potential von Büchern und Träumen in den Focus geraten und allmählich hatten sich die Oneironauten zu einem organisierten Widerstand gegen das System, die Überwachung und die Mittelung formiert. Tief unter der Sohle von GroundZero, der natürlichen geologischen Basis, auf der die gigantischen Pylone gründeten, die die 32 Grounds der Urb trugen, in den Tunneln, Gängen, Röhren und Kavernen uralter Versorgungs- und Ableitungssysteme, war das Refugium entstanden, von dem aus die Oneironauten ihren Widerstand planten und umsetzten.
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