Was genau es mit dem Träumen auf sich hatte, sollte sie erst viel später von den Oneironauten erfahren. Vorerst hatte sie das, dem sie nach so mancher Ruhephase nachspürte, für sich als „aus dem Takt gefallen sein“ bezeichnet.
Nachdem sie ihr Eye unschädlich gemacht hatte, rollte sich Esther ihre EmptyFace-Maske über Kopf und Gesicht und zupfte sie solange zurecht, bis sie an Ohren, Augen, Nase und Mund richtig anlag. Die Iris ihrer auffallend grünen Augen verbarg sie hinter dem Hypergel grauer Kontaktlinsen. Zwar spannte die Latexhülle zunächst unangenehm auf ihrem Schädel, doch ertrug sie dieses Gefühl von Enge und Abgeschnürtsein in der Hoffnung, sich frei bewegen zu können, ohne erkannt zu werden. Sobald die Gesichtsfolie Körpertemperatur angenommen hatte, würde sich das ohnehin geben. Die Maske war auf der Grundlage der übereinstimmenden Merkmale der MimikScans hunderter Citizens entwickelt worden, so dass ihr Ausdruck so glatt und nichtssagend war, als wäre ihre Trägerin unsichtbar. Wahrscheinlich würde sich niemand an sie erinnern, auch wenn er ihr stundenlang gegenübergesessen hätte. Hier wurde Mittelung eingesetzt, um das System mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, pflegte Kassandra, die Seherin ihrer Sektion der Oneironauten, zu sagen.
Als Esther aus ihrem Hexagon in den CircuitWalk ihres Habitats trat, endete das Gefühl der Freiheit abrupt, das sie nach der Deaktivierung ihres Eyes überkommen hatte. Sie konnte die Linsen der überall montierten stationären Aufnahmeeinheiten, der in den Gängen zirkulierenden mobilen Drohnen und der MatchingEyes, die über den Köpfen der anderen Citizens schwebten, wie zudringliche Blicke, die ihren Körper abtasteten, fast körperlich spüren. Sie war hoch nervös. In dem abgeschirmten Refugium der Nauten in der Mnemosyne-Lösung im Tank zu liegen und seine Träume zu analysieren, war etwas völlig anderes, als in aller Öffentlichkeit gegen das System aktiv zu werden. Sie war die allgegenwärtige Beobachtung und Überwachung so gewohnt, dass sie sich nur schwer vorstellen konnte, direkt unter den Augen des Systems MorpheustronDisrupter zu positionieren.
Auf dem Weg zum Lift kam ihr einer ihrer FirstMates entgegen, Greve2m8, mit dem sie die UniqueSchool besucht hatte und dessen Hexagon ein Stück den CircuitWalk hinunter lag. Wie sie während der Mittelungen der letzten MatchingSessions erfahren hatte, war Greve seit Neuestem Anhänger des RhythmClimbing, eines von CreativeClimb.Inc. massiv auf allen Kanälen des OmniNet forcierten neuen Trends. Hier erklomm man zum Takt eigens kompilierter Klangfolgen Kletterwände und gruppierte sich dabei mit weiteren Climbern zu Teams, die jeweils synchron die Bewegungen anderer Teams widerspiegelten. Das Ganze gipfelte dann in einer symmetrisch schwingenden Aufwärtsbewegung der Teams aller Beteiligten. Mit dem ihm eigenen Sendungsbewusstsein für seine Marken wurde Greve nicht müde, seinen Mates die MovingPics der so entstehenden LevitationChoreografien zu promoten, um neue Anhänger für seine aktuelle Obsession zu werben. Im Gegensatz zu Esthers SocialScore war der seine kein Fake, denn Greve setzte voll auf die Empfehlungen seines BuyingGuards und folgte den aktuell gaußen Marketing-Trends wie ein MatchingEye seinem Citizen, ohne dabei zu merken, dass der absolut ultimative Thrill ständig immer wieder aufs Neue versprochen wurde. Im Grunde schien das eigentlich auch sonst niemand zu bemerken.
Greve kam von seinem Job als DataAggregator bei der MatchingAdministration und würde wohl gleich wieder zu einer ClimbingSession aufbrechen. Wahrscheinlich kam sie, um den Schein zu wahren, nicht darum herum, sich demnächst ebenfalls an einer dementsprechenden Kletterwand abzustrampeln. Da sie ihrem Mate jetzt nicht mehr ausweichen konnte, wollte sie ihn schon grüßen und wie immer ihren unverbindlichen Smalltalk abspulen, der unter Beweis stellen würde, in welch hohem Grad sie gemittelt war und interessiert an allen aktuellen Trends teilnahm und natürlich auch die gaußen Moves seiner RhythmClimbings verfolgte, als ihr die leichte Spannung auf ihrer Gesichtshaut ins Bewusstsein rief, dass sie ja ihre Maske trug. Greve ging an ihr vorbei, als wäre sie unsichtbar. Esther atmete auf. Ganz offensichtlich erfüllte ihre Gesichtsfolie ihren Zweck und es würde schon alles gut gehen. Etwas zuversichtlicher betrat sie den Lift, der sie nach kurzer Fahrt in das Basement ihres Habitats entließ. Es war exakt Takt 72.000.
Auf dem MainWalk zwischen den Habitaten herrschte Feierabendstimmung. In den Kuppeln der Domes war die Abendanimation angebrochen und die über ihr auf den Strings der AntiGrav dicht an dicht dahinschwebenden Cabs kurvten lange Lichtschleifen in den künstlichen Himmel. Die spiegelnden Fassaden der umliegenden Habitate, OfficeTower und ShoppingCenter strahlten in antiseptisch klaren Komplementärfarben. Über der in der Mitte des Grounds ragenden Dependance von Pear.Inc. kreiste das dreidimensionale SculptureLogo in Form einer riesigen Birne, über die in weithin sichtbarer Schrift ständig wechselnde Werbebotschaften liefen. Andere Anbieter mit geringerer Marktmacht mussten sich damit begnügen, ihre Werbung auf flachen Boards zu streamen, die Esther deswegen aber als nicht weniger aufdringlich empfand, weil sie überall ihr Blickfeld infiltrierten. Immerhin sah sie ab und an auch die Botschaft der Oneironauten aufblitzen: „Dein Schlaf gehört dir!“ Sie war dankbar, dass die Beschallung mit Entspannungsmusik, die den rekreativen Flow der Citizens anregen sollte, gerade ausgesetzt hatte.
Den olfaktorischen Angeboten der Hersteller von BodyCare-Produkten konnte sie dagegen nicht entgehen. Den gesamten Walk entlang waren SmellJets angebracht, die je nachdem, welche Gruppe von Citizens gerade an ihnen vorbeizog, die zu ihrem gemittelten Einkaufsprofil passenden Düfte emittierten. Sobald die nächste Gruppe nahte, wurde der aktuelle Geruch neutralisiert und von einem neuen überlagert. Da Esther nicht wie alle anderen in einer Gruppe, sondern alleine unterwegs war, registrierten die Sensoren der Jets sie als nicht kaufkräftig genug, und sie schwamm in einer Wolke ständig wechselnder penetranter Gerüche.
Die Citizens, die zu Fuß oder in Pulks von Hovern den MainWalk bevölkerten, strebten zu den MarketingEvents, den PromoShows der HoloCines, in die SensualCaves, die GameMiles, die BodyPower-Center oder in eines der zahlreichen LoveGyms, die auf dem JoyCircle des Grounds lagen. Die aktuell gaußen Farben, Outfits, Gadgets und Accessoires wurden zur Schau getragen. Direkt vor Esther produzierte sich eine Gestalt in den grellsten CoatingColours, die dort, wo sie direkt auf der Haut auflagen, je nach Veränderung des Hautwiderstands anders changierten. Und mit freier Haut geizte die Citizen nicht; wahrscheinlich war sie auf dem Weg in ein LoveGym. An beiden Handgelenken trug sie AeroFlats, die sie synchron bediente. Da Esther aus ihrem Blickwinkel die Projektionsfläche der Flats nicht wahrnehmen konnte, sah es aus, als tippe die Citizen mit beiden Händen in der leeren Luft herum.
Sie entdeckte etliche SecurityCorps in ihren charakteristischen grauen Carbonharnischen in der Menge. Sie hatte weder gesehen noch davon gehört, dass ein SecCorp jemals seinen Paralysator eingesetzt hätte, doch gewiss gab es eine vom Board of PredictiveProfiling auf der Basis welcher Parameter auch immer ausgewiesene Korrelation, dass pro Menge X Citizens in Feierabendlaune ein ganz bestimmter Prozentsatz von Y SecCorps zu patrouillieren hatte. Und wahrscheinlich war dieser Prozentsatz auf der nach oben offenen Sicherheitsskala eher zu hoch als zu niedrig angesetzt.
Die Gesprächsfetzen, die sie aufschnappte, drehten sich um neue und alte Marken, neue und alte Trends und darum, ob der Relaunch ehemaliger Kulttrends wohl greifen würde. Es wurde heftig darüber diskutiert, wann welcher Anbieter welche Innovation auf den Markt bringen könnte oder würde. Es ging darum, wer, was schon angetestet oder länger in Gebrauch hatte und wer, wem, was empfehlen konnte. Es ging darum, ob das eigene Psychogramm oder der Kauftrend seiner SocialUnit mit bestimmten Produkten oder Services kompatibel war und was die BuyingGuards dazu zu sagen hatten. Und natürlich ging es um die Abweichungen von Mates, die einem MatchingLoop unterzogen worden waren.
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