Nur beiläufig nahm Nancy zur Kenntnis, dass trotz der ähnlichen Mimik der Blonde älter als Felix aussah und ein Stück größer war. Auch an dessen Ausdruck zeichneten sich sichtbare Unterschiede ab, die bei Nancy einen eher belustigenden Effekt erzielten.
Felix’ Mund war zu einem unbegeisterten Schmollen geformt und die hellblauen Augen funkelten die dunkleren böswillig an, als wäre er ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Der Größere hingegen teilte ihm mit, dass er sich freute, ihn wiederzusehen und breitete die Arme zu einer Umarmung aus.
„Komm, Dad wartet sicher schon auf uns.“ Nancy wandte sich an ihre Schwester und wollte sich von den beiden Jungs entfernen, um nicht etwas von der Lava abzubekommen, wenn der Vulkan tatsächlich ausbrach.
Sie wartete geduldig darauf, dass Nellie ihre Tasche zu dem anderen Gepäck stellte. Leider bewahrheitete sich Nancys Befürchtung und das Unglück nahm innerhalb einer winzigen Sekunde seinen Lauf, ohne dass sie es verhindern konnte.
Das hörbare Schnauben von Felix bildete eine perfekte Symbiose mit der abwehrenden Armbewegung, die genug Kraft hatte, den Blonden von sich zu stoßen. Der Größere versuchte Halt an der Wand zu finden und stützte seine Arme nach hinten ab. Dabei stieß er an Nellie, der die Tasche von der Schulter glitt und die gegen die Wand gedrückt wurde. Alarmiert durch den erschrockenen Laut ihrer Schwester eilte Nancy zu ihr.
„Idiot!“, schimpfte sie über den flüchtenden Impater.
Es passte ihr nicht, unfreiwillig in fremde Konflikte hineingezogen zu werden, die sie weder interessierten noch etwas angingen. Für die kontrollierte und stets gefasste Amerikanerin stellte es ein Unding dar, sich so flegelhaft zu benehmen. Ihre Meinung über diesen Felix sank ins Bodenlose.
„Wir bezeichnen ihn eher als Kobold, wenn er sich so benimmt“, entgegnete der blonde Junge scherzhaft auf die Beleidigung, die Nancy Felix hinterhergeworfen hat. Mit einem verlegenen Schmunzeln versuchte er die Situation noch zu retten. „Ich muss mich für meinen Bruder entschuldigen. Er… freut sich nur so unbändig mich zu sehen.“
Ein Fakt, der kaum zu übersehen war und zu dem Nancy Stellung beziehen wollte, wenn ihr ihre Zwillingsschwester nicht zuvorgekommen wäre.
„I-ist ja nichts passiert“, erwiderte Nellie schnell und freute sich über die Hilfsbereitschaft des Blonden, der ihr mit den Taschen half und sich besorgt vergewisserte, dass ihr durch den abrupten Zusammenstoß nichts geschehen war.
„Du solltest ihn besser einfangen, bevor er mit seiner Freude noch irgendwen versehentlich die Treppe hinunterstößt“, reagierte Nancy schnippisch auf den völlig unpassenden und deplatzierten Kommentar, an dem sie nichts Lustiges finden konnte.
Mit dieser Entgegnung schien der Blonde nicht gerechnet zu haben und blinzelte sie erstaunt an. Ausdruckslos trafen die grünen Augen auf die blauen ihres Gegenübers. Seine Mundwinkel zuckten schwach und offenbarten anschließend ein selbstbewusstes Lächeln. „Du hast recht. Mister Barnheim scheint sowieso noch beschäftigt zu sein.“ Und somit verabschiedete er sich von den Zwillingen. „Dann werd ich ihm mal hinterhergehen, bevor er wirklich noch was anstellt. Man sieht sich.“
Nancy verzog keine Miene, als er an ihr vorbeiging. Sie wollte den Gedanken an die ungleichen Brüder erstmal beiseiteschieben, auch wenn Nellie kleinlaut davon sprach, dass er doch ganz freundlich war. Dass sie dadurch unscheinbare Kritik an Nancys ablehnendem Verhalten äußerte, war ihr vermutlich nicht bewusst. Deshalb griff die blonde Impater eine von Nellies Einschätzungen auf, nachdem sie kurz im Türrahmen stehen geblieben war: „Denkst du immer noch, dass Felix nur unsicher ist?“
Nellie gab mit einem langsamen Kopfschütteln zu, dass die Unsicherheit nicht für so ein konfliktsuchendes, nahezu feindseliges Verhalten verantwortlich sein konnte. Dennoch hielt sie tapfer ihre Einstellung aufrecht und äußerte, dass er womöglich schlichtweg mit Problemen zu kämpfen hatte und sich nicht anders zu helfen wusste, als um sich zu schlagen.
Nancy zuckte unbeteiligt mit den Schultern und betrat nach der Verzögerung mit Nellie das Sekretariat. Hinter einem hohen Schreibtisch saß Mrs. Farrell, die auf die geöffnete Tür deutete, die den Durchgang zum Büro des Direktors darstellte. Gutmütig und die Situation im Gang offenbar missverstehend, erfreute sie sich daran, dass die Zwillinge schon ersten Anschluss gefunden haben.
Neben dem piependen Ton, der ein Fax ankündigte, hörte Nancy die Stimme des Direktors. Nach nur wenigen Worten kristallisierte sich heraus, über welches Thema sie gerade sprachen, weswegen sie Nellie einen aufmunternden Blick schenkte.
„Sie können unbesorgt sein. Mister Serra verfügt über außerordentliche pädagogische Fähigkeiten und seine Referenzen sind herausragend. Aber Sie können sich gerne selbst ein Bild von unserem geschätzten Kollegen machen. Ich habe ihn gebeten, unserem Gespräch beizuwohnen.“
Nachdem Nancy tröstend nach Nellies Hand gegriffen und sie kurz gedrückt hatte, klopfte sie behutsam an die Tür, um auf sich und ihre Schwester aufmerksam zu machen – außerdem konnte sie so die Unterhaltung unterbrechen, der Nellie mit ihrem ausgeprägten Gehör in ihrem gesamten Ausmaß ausgesetzt wäre.
„Nellie, Nancy, setzt euch doch.“ Mr. Barnheim bot ihnen einen Platz neben ihrem Vater an und lehnte sich selbst in seinen Bürostuhl zurück.
Der mittlere Stuhl wartete darauf, von Nellie besetzt zu werden. So hatte sie zur Linken ihren Vater als Stütze, während Nancy sich rechts von ihr hinsetzte. Die Impater ließ ihren Blick unauffällig schweifen, um sich ein Bild vom Zimmer des Direktors zu machen.
Der Raum verzichtete auf dunkle Farben, wirkte durch die hellgrünen Nuancen sehr offen und weit. Hinter dem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch befand sich ein Doppelfenster, geschmückt mit Blumen und braunen Gardinen, die den Luftzügen zur Sichtbarkeit verhalfen. Außerdem erinnerten die Farben an den Wald, der vom Fenster aus gut sichtbar war. Platz für Ordner und Bücher bot das Regal, das bis an die Decke reichte und dem Raum aufgrund seiner Breite ein wenig die Größe nahm.
Bevor sie das Gespräch wieder aufnehmen konnten, betrat eine weitere Person das Büro. Der Direktor stellte den schwarzhaarigen Mann sogleich als Vincent Serra, den Vertrauenslehrer der Morrison Memorial School, vor. Obwohl er noch nicht zu den älteren Herrschaften gehörte, strahlte der Lehrer Autorität und Pflichtbewusstsein aus.
Mr. Serra begrüßte die Gäste mit einem Händedruck und beschaffte sich dann eine Sitzgelegenheit aus dem Sekretariat, um sich dazu setzen zu können. Dabei achtete Nancy auf die fein definierten Muskeln an seinen dezent gebräunten Armen, die durch das kurzärmelige Hemd gut sichtbar waren. Er besaß eindeutig eine sportliche Statur, was zu einem seiner Unterrichtsfächer passte.
„Euer Vater und ich haben uns gerade über die außerschulische Betreuung unterhalten“, fasste Mr. Barnheim für seinen Kollegen und die Zwillinge zusammen.
Nancy hatte befürchtet, der Direktor würde sich in Lügen verstricken, um Nellie nicht in Verlegenheit zu bringen, doch er blieb bei der abgeschwächten Form der Wahrheit. Es war mit ihren Eltern so abgemacht, dass sie nur unter der Bedingung Schule und sogar Land wechseln durften, wenn es sich um ein Internat mit besonderer Betreuung handelte und es jederzeit einen Ansprechpartner für Nellie gab. Seit einem Vorfall vor ein paar Jahren, bei dem Nellie nicht nur im Krankenhaus gelandet war, sondern auch ihren Eltern den Schrecken ihres Lebens verpasst hatte, waren sie besonders vorsichtig geworden.
Die Jüngere schien ebenfalls daran zurückerinnert zu werden und zog nervös ihre Ärmel nach vorne. Nancy legte ihr beruhigend eine Hand über die halb verdeckten Finger und lächelte aufmunternd.
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