1 ...7 8 9 11 12 13 ...26 In der Hoffnung bei Randall Ablenkung zu finden und sein erhitztes Gemüt abkühlen zu können, warf er zunächst einen prüfenden Blick hinter sich. Erst als er sich aufmerksam vergewissert hatte, dass ihm kein ungewolltes Anhängsel gefolgt war, stapfte er um die Garage herum.
Das typisch klirrende Geräusch, wenn zwei Metallgegenstände aufeinander trafen, begrüßte ihn und der Anblick der Karosserie schaffte es, seine Laune ein wenig zu heben. Vor ihm präsentierte sich ein waschechter Oldtimer in dunkelblauer Farbe, dessen Automarke sich stolz auf der Mitte der Motorhaube mit den berühmten zwei Flügeln und dem großen Buchstaben in Szene setzte.
Randall war über den Motorraum seines Bentleys gebeugt und versuchte mit einer Zange die Schrauben am Bremsflüssigkeitsbehälter zu fixieren. Nur flüchtig begegneten sich ihre Blicke, bevor der Hausmeister unbeirrt mit seiner Arbeit fortfuhr und trocken das Offensichtliche äußerte: „Du bist spät.“
Felix hatte bei dem Ärger um die Zimmerbelegung nicht mehr auf die Uhrzeit geachtet und sich nur noch darauf konzentrieren können, sich beim Direktor darüber zu beschweren. Es missfiel ihm ohnehin, dass er aus dem gemeinsamen Zimmer, das er letztes Jahr mit einem seiner ehemaligen Klassenkameraden bewohnt hatte, ausziehen musste. Als wäre es nicht unnötig genug, den Jahrgang wegen seiner schlechten Leistungen wiederholen und damit noch länger auf diesem Internat bleiben zu müssen, zwang man ihn fortan mit seinem Bruder und seinem Kindheitsfreund zusammenzuleben.
„Gab Probleme“, entgegnete der Schüler wortkarg und entlockte dem Mann ein wissendes Nicken, nachdem er seinem Oberkörper wieder eine gerade Haltung verschafft und seine Hände mit einem Tuch vom Schmutz befreit hatte.
„Gehe ich recht in der Annahme, dass dein Ärger mit der neuen Zimmerverteilung zusammenhängt?“
„Sie haben die Schilder angebracht, oder?“, stellte Felix unbegeistert seine Vermutung in den Raum und wartete kaum die Bejahung ab, um seiner Aussage einem murrenden Vorwurf folgen zu lassen: „Und warum haben Sie es nicht verhindert?“
„Weil ich nicht der Direktor des Internats bin“, antwortete ihm der Hausmeister sachlich und entlockte dem Schüler ein missfallendes Schnauben.
„Mister Barnheim wird sich schon etwas dabei gedacht haben. Und wenn du mich fragst, fände ich die Vorstellung ziemlich befremdlich mit völlig Unbekannten das Zimmer teilen zu müssen. Da ist es doch gut, wenn du die drei schon kennst.“
Selbst das versöhnliche Lächeln von Mr. Reid erreichte nicht den erwünschten Effekt und stieß bei dem Impater auf taube Ohren. Hinter all der Wut versteckte sich etwas, das Felix sich selbst nicht eingestehen wollte: Angst. Das letzte Mal, als er seinem Bruder gegenüber gestanden hatte, hatte er etwas tief in seinem Inneren gespürt. Einem Grollen gleich, das nicht zulassen wollte, sich von ihm in die Arme schließen zu lassen. Es kämpfte unerbittlich gegen die aufrichtige Freude an, nach einem unsagbar langen und zähen Jahr einen Vertrauten an seiner Seite zu haben.
Felix hatte aufgehört zu zählen, wie oft er in den letzten Monaten an sein Zuhause gedacht hat. An seine Eltern, seinen Bruder und die heimische Umgebung, die er hier so schmerzlich vermisste. Selbst gewöhnliche Dinge, die in Deutschland selbstverständlich waren, fehlten ihm plötzlich. Und dann war es nur ein Augenblick gewesen, ein hilfloser Reflex, Zacs Arme wegzustoßen und zu flüchten.
Gestresst lehnte Felix sich gegen die Werkbank in seinem Rücken und fixierte die aufwendige Verkabelung des Autos, an der Randall wieder zu werkeln begann, wenngleich seine Gedanken augenblicklich ganz woanders als um den Oldtimer schwirrten.
Seinen Bruder wiederzusehen, hatte ihm vor Augen geführt, wie sehr er sich nach Deutschland, seinem Zuhause, sehnte, aber gleichzeitig zeigte es ihm auf, dass er dort nicht mehr willkommen war. Seine Eltern hatten ihn vor einem Jahr nach England abgeschoben, um ihre Zeit nur noch mit dem ältesten Sohn zu verbringen. Er war der ausgeglichene der beiden Jungs, der Erwachsene und Verantwortungsbewusste, mit dem man lieber seine Zeit verbrachte, statt sie dem störrischen, kleinen Esel zu widmen, wie seine Familie ihn oft liebevoll nannte.
Da Felix sich so vehement geweigert hatte ins Ausland zu gehen und sich nicht davon beeindrucken ließ, dass englische Internate zu den besten Schulen mit den erfolgversprechendsten Aussichten gehörten, hatte sein Vater ihn erkennen lassen, wie sehr die Familie darauf bestand, Felix nicht in ihrer Nähe zu haben.
Felix erinnerte sich quälend an den Moment, als er seine Gegenwehr erschöpft eingestellt und nachgegeben hatte – nicht ausschließlich wegen des versprochenen Autos nach erfolgreichem Abschluss, sondern weil er sich unerwünscht gefühlt hat. Es war Fassungslosigkeit, die sich in seinem Gesicht ausgebreitet hat, als man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, ihn der familiären Stütze beraubt und auch noch Begeisterung und Dankbarkeit von ihm erwartet hat. Seine Eltern waren bereit, dem englischen Internat eine stolze Summe an Schulgeld zu überweisen. Nicht mal Zac hatte sich bemüht, sich für ihn einzusetzen und ihre Eltern zu überzeugen, dass er doch bleiben sollte. Fast so, als hätte es die vielen tollen Jahre in ihrer Kindheit nie gegeben.
Auch jetzt noch traf es ihn, dass sein Bruder immer nur mit einem ausweichenden Blick reagiert hatte und ihn mit leeren und lieblosen Floskeln beruhigen wollte, als er sich lautstark über das Verhalten seiner Eltern beschwerte. Wie erwartet war der Abschied am Flughafen sehr unterkühlt verlaufen. Felix hatte sich geweigert, seine Mutter und Zac zu umarmen und auch seinen Vater hatte er in England alles andere als herzlich verabschiedet. Seitdem war der Kontakt nur sporadisch erfolgt.
Felix hatte eine unsichtbare Mauer um sich errichtet. Sie bestand zum Wohle seiner Familie und zu seinem eigenen Schutz. Er empfand durchaus noch etwas, als sich die Arme seines Vaters das letzte Mal um ihn legten und ihn festhielten. Es fühlte sich ehrlich an, nicht so widerlich wie der Gedanke, dass seine Eltern ihn nicht mehr ertrugen. Dennoch konnte er die Geste nicht erwidern. So war er stumm geblieben, während sein Inneres danach schrie, die Zerrissenheit seiner Seele zu überwinden.
Der starre Blick auf Randall und den Oldtimer verlor seine gestochene Schärfe und verschwamm in undeutliche Formen vor seinen Augen. Das Resultat seiner unbewussten Verzweiflung. Die Tränen brannten wie Fremdkörper in seinen Augen und so unscheinbar sie auch glänzten, so offensichtlich demütigend fühlten sie sich für den Jungen an. Nichts verdeutlichte seine stumme Not mehr, als die unerwünschten Tropfen, die sich aus seinen Augen kämpften.
„Felix“, hörte der 16-Jährige seinen Namen und richtete den Blick ertappt auf den Hausmeister, der ihn abwartend ansah: „Gib mir mal bitte den Kreuzschlitz, anders komm ich da nicht dran.“
Der Mut kam nicht gegen die Gegenwehr an. Hastig drehte Felix sich zur Werkbank um und beseitigte das verräterische Glitzern aus seinen Augen, in dem er fahrig mit dem Handballen darüber wischte.
„Du warst ja meilenweit weg“, stellte Randall fest, ohne forsch auf eine Erwiderung zu drängen.
Felix ließ es unkommentiert und suchte unkoordiniert nach dem verlangten Werkzeug. Da er derart aufgewühlt war, kostete ihn das eine Menge Konzentration, was dem Hausmeister nicht zu entgehen schien und er ihm ermunternd auf die Schulter klopfte.
„Versuch es doch als Gelegenheit zu sehen.“
Mehr als mit einem halbherzigen Nicken zuzustimmen, brachte Felix nicht zustande. Er war alles andere als überzeugt davon, die Zimmerverteilung als solche anzusehen. Die Konfrontation mit seinem Bruder riss alte Wunden auf, die ihm sowieso jeden Tag Schmerzen bereiteten und jetzt neu zu bluten begannen. Wie lange hatte er in seinem ersten Jahr mit Albträumen zu kämpfen gehabt, in denen seine Familie sich von ihm abgewendet hat und er sich als vogelfreier Junge durch die Welt schlagen musste? Wie oft musste er sich zwingen, nicht an sie zu denken und zu überlegen, was sie gerade taten oder ob sie ihn auch ein wenig vermissten? Im Gegenzug war er aber zu stur, den Kontakt zu suchen und hat Anrufe meistens abgelehnt.
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