„Cool, Fridolin ist auch da“, freute sich auch der Blondschopf über das vertraute Tierchen, ehe er zu dem gegenüberliegenden Bett ging, in dem er sich offenbar einquartiert hatte.
Da die Jungs sich bereits seit dem Kindergarten kannten, war es nicht verwunderlich, dass Esel Fridolin auch bei Max ein fester Bestandteil der gemeinsamen Erinnerungen war.
Amüsiert sah Zac dabei zu, wie der Jüngere sich geräuschvoll auf der Matratze fallen und ein leises „Man, war das ein Tag!“ verlauten ließ.
Sorgsam wurde das Stofftier wieder in der Tasche versteckt, damit Zac sich um sein eigenes Gepäck kümmern konnte. Dabei sagte er grinsend: „Na los, erzähl schon. Sonst platzt du mir noch.“
„Das ist der Hammer hier!“, stieß Max sogleich aus, als hätte er bloß auf ein Startsignal gewartet, „Das Gelände ist riesig und das für so wenige Schüler. Erinnerst du dich noch daran, wie eng der Pausenhof des Gymnasiums manchmal war?“
„Ja“, antwortete Zac mit einem leisen Lachen und sortierte seine Shirts vorsorglich auf dem Bett, „Ich war erst vor wenigen Monaten noch dort und wir haben uns gemeinsam durchgequetscht.“
Max fiel beschämt ins Lachen ein. „Stimmt. Manchmal vergesse ich, dass das gar nicht so lange her ist.“
Er fing davon an, wie er sich mit jemand anderem im Garten verlaufen und erst gefühlte Stunden später wieder die Freiheit gefunden hat. Zac wunderte sich gar nicht erst darüber, denn wenn sich einer auf kleinem Gelände verlaufen konnte, dann eindeutig Maxim.
Bevor die Erzählung jedoch weiter ging, wurde die Tür erneut geöffnet und ein ihnen fremder, dunkelblonder Junge trat ein. Das musste dann wohl der unbekannte Zimmergenosse sein. Mit einem „Hi“ blieb er in der Nähe der Tür stehen und sah sich erst im Zimmer um, als suche er nach etwas Bestimmten. Zac tat es damit ab, dass er den letzten freien Platz ausspähte, da er sich auch sogleich darauf zubewegte. Trotzdem meinte er eine gewisse Erleichterung in dessen Gesicht zu erkennen, die er sich nicht recht erklären konnte.
Da Max sich bereits vorstellte, tat Zac es ihm gleich und fügte noch die Frage hinzu: „Stimmt etwas nicht? Du hast dich gerade so auffällig umgesehen.“
Der Junge, der sich Lewis nannte, antwortete prompt darauf: „Nein, es ist alles in Ordnung.“ Zögerlich warf er einen Blick in Richtung von Felix’ Bett. „Ich wollte nur vermeiden, direkt auf unseren letzten Mitbewohner zu stoßen, das ist alles.“
Überrascht tauschten Max und Zac Blicke aus, ehe Letzterer nachhakte: „Warum das?“
„Wir waren letztes Jahr in einer Klasse und man könnte sagen, dass wir uns nicht gut verstanden haben“, antwortete Lewis, während auch er sich um seinen Koffer kümmerte. „So wie der drauf ist, wundert es mich nicht, wenn niemand mit ihm befreundet sein will. Der Einzige, mit dem er nicht aneinander geraten ist, war sein ehemaliger Mitbewohner, der auch nicht besser ist.“
„Ich kenne jemanden, der mit Felix befreundet ist“, meinte Max mit einem schiefen Grinsen und fügte auf Lewis’ fragenden Blick hinzu: „Ich bin sein bester Freund.“
„Und ich bin sein Bruder“, löste Zac auch das Familienverhältnis auf und musste bei den entgleisten Zügen seines neuen Mitbewohners leise schmunzeln.
„Großartig“, murmelte Lewis seufzend und betrachtete die beiden abschätzig, „Erinnert mich daran, das nächste Mal vorher nach irgendwelchen Bekanntschaften zu fragen, bevor ich jemanden kritisiere. Noch irgendwelche Cousinen zweiten Grades, von denen ich wissen sollte und über die ich besser nichts sage?“
Beide verneinten amüsiert, doch Zac wandte sich unter dem Vorwand, seine Kleidung im Schrank zu verstauen, ab. Er wusste bereits, dass es um Felix’ Sozialkompetenz an der Schule schlecht stand, aber es nun von jemandem persönlich zu hören, war etwas anderes. Es war das Beste, dass Felix wieder jemanden hatte, der wusste, wie er wirklich war. Wie er vor der Verwandlung zum Impater gewesen ist. Und wie er hoffentlich wieder sein konnte.
02.09.2018 – später Nachmittag
Morrison Memorial, Parkplatz
Nachdem die Zwillinge das gemeinsame Zimmer gefunden hatten, besichtigten sie zusammen mit ihrem Vater das Internat. Der Umweg über die Mensa hatte unverhofft länger gedauert, da zur Begrüßung der neuen Schüler ein großes Blech Erdbeerkuchen angeboten wurde, den sich ihre Schwester nicht entgehen lassen wollte. Da Nancy, anders als Nellie, auf Süßes verzichten konnte, hatte sie ihr kurzerhand ihr Stück überlassen.
Auch danach schwärmte Nellie noch immer munter von der Köstlichkeit und schien dabei zu vergessen, dass sie sich auf den Parkplatz zubewegten, um ihren Vater für eine lange Zeit zu verabschieden. Erst als sie vor dem Auto standen, hielt Nellie den Atem an und verstummte bestürzt. Nancy war gefasster, denn sie hatte sich die ganze Zeit über gedanklich mit dem Abschied beschäftigt. Die ersten Tage würde es sich befremdlich anfühlen, zu wissen, dass ihre Eltern viele Tausend Kilometer entfernt waren. Nancy sah schweigend mit an, wie Henry das Auto entriegelte und sich seiner Jacke entledigte, die er achtlos auf den Beifahrersitz warf. Erst dann drehte er sich nach einem tiefen Durchatmen zu ihnen um. „Ihr werdet eurer Mutter und mir sehr fehlen.“
„Ihr uns auch“, antwortete Nellie kleinlaut und Nancy glaubte, ein schwaches Wimmern herauszuhören.
Mit einem aufbauenden Lächeln schloss ihr Vater Nellie in seine Arme und strich ihr dabei zärtlich über ihren Haarschopf, bevor er einen Kuss auf ihre Stirn setzte. Der wimmernde Laut wurde zu einem herzzerreißenden Schluchzen und die Umarmung war so fest, als wolle sie nie wieder gelöst werden.
„Wenn irgendetwas ist, meldet euch. Wir sind Tag und Nacht für euch erreichbar.“
„Machen wir, Dad.“
Sanft legte Nancy ihrer Schwester die Hand auf die Schulter, damit sie sich langsam von ihrem Vater löste. Sie versuchte ihr zu vermitteln, dass sie nicht allein war und solange Nancy bei ihr war, sie sich vor nichts fürchten musste. Henry suchte dankbar ihren Blick, dann zog er auch sie in eine feste Umarmung.
„Vergiss nicht, ein bisschen Spaß zu haben“, flüsterte er ihr lieb gemeint zu.
Statt darauf zu antworten, nickte Nancy nur und genoss den kurzen Moment, in dem ihr Vater noch in greifbarer Nähe war. So selbstständig sie auch mit steigendem Alter geworden war, fühlte sie sich in seiner Nähe wohl, wenngleich diese Umarmung ein eigenartiges Gefühl in ihr weckte, das sie schon lange hinter sich geglaubt hatte. In solchen Augenblicken wie diesen durfte sie Nancy das Kind und die Tochter sein, und nicht nur die Schwester, die stark und verantwortungsvoll sein musste. Mit der Zeit hatte sie es gelernt zu verabscheuen, Schwäche zu zeigen und hatte sich ganz ihrer Pflicht verschrieben, auf Nellie aufzupassen. Die Zeit war längst vorbei, in der sie nur ein schwaches Mädchen und auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen war.
Die vertraute Kälte hüllte sie bestätigend wie ein Mantel ein, als sie die Umarmung beendete und mit gemischten Gefühlen einen Schritt zurücktrat. Ihrem Vater schenkte sie ein gefasstes Lächeln.
„Passt auf euch auf.“ Beherzt griff er nach den Händen seiner Töchter und drückte sie kräftig, bevor seine Finger von ihrer kalten Haut glitten und sich auf die geöffnete Fahrertür legten. Doch vorher schien er noch etwas loswerden zu wollen: „Wenn ihr mal Anrufe bekommt und ihr jemanden in den Hörer schluchzen hört, ist das nur euer Onkel, der euch sehr vermisst.“
Nellie entkam ein kurzes Lachen, das von einer zarten Träne begleitet wurde, die Henry sorgsam beseitigte.
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