Als Nächstes trat eine Frau nach vorn, die nur wenig älter als ihr Vorgänger schien und ihre schwarzen Haare zu einem Dutt trug. Auch sie besaß einen leicht dunkleren Teint, was jedoch kaum auffiel.
„Doktor Marissa Peck ist bei den meisten als unsere Schulärztin bekannt, aber sie unterrichtet auch Biologie. Habt ihr euch verletzt oder fühlt euch nicht wohl – was wünschenswerterweise nie geschehen wird – könnt ihr sie im Krankenzimmer antreffen. Bei ihr seid ihr in guten Händen.“
Auch sie nickte den Schülern bloß zu, ehe sie sich wieder zurückzog, jedoch auf eine offene und freundliche Weise, sodass Max keine Zweifel daran hatte, dass er der Ärztin seine Gesundheit guten Gewissens anvertrauen könnte.
„Nun begrüßt mit mir unseren Referendar Jason Coleman.“
Maxims Vermutung über den jungen Lehrer wurde bestätigt. Was ihn dagegen wunderte, waren der kurze Applaus und die begeisterten Rufe, die jedoch schnell wieder verklangen. Das Gesicht des braunhaarigen jungen Mannes zierte ein breites Grinsen, das sich sichtlich über diese Art der Begrüßung amüsierte. Seine Körperhaltung wirkte locker und weniger seriös als die der anderen Lehrer. Dafür besaß er eine enorme Ausstrahlung. Von allen Lehrern schien er bisher am sympathischsten zu sein, weswegen der Blondschopf allmählich verstehen konnte, wofür er die Begeisterung verdient hatte.
„Wie ich sehe, braucht es keine weitere Erklärung zu ihm“, schmunzelte Mr. Barnheim über die überschwängliche Reaktion mancher Schüler und nickte dem Referendar dankbar zu. Mr. Coleman erwiderte die Geste mit einem Lächeln und trat wieder einen Schritt zurück, während die nächste in der Reihe sich ebenfalls bewegte.
„Enya Kane ist für den Spanischunterricht zuständig und kümmert sich zudem um den künstlerischen Zweig.“
Die kupferroten Haare waren das auffälligste Merkmal an Ms. Kane, die durch ihr herzliches Lächeln einen guten ersten Eindruck hinterließ. Max war sogar versucht das muntere Winken zu erwidern und ertappte sich dabei, wie er bereits eine Hand erhoben hat. Neben sich hörte er Lilly kichern, der es nicht verborgen geblieben war, weswegen er seine Hand verlegen wieder sinken ließ.
Nun war es an der vorletzten in der Reihe vorzutreten und sich vom Schulleiter vorstellen zu lassen. „Fehlt nur noch Ellia Voigt. Sie wird sich in Zukunft um eure Kenntnisse in den Fremdsprachen Deutsch und Französisch kümmern und leitet zusätzlich den Theaterkurs, für den ihr euch gerne anmelden könnt. Wir suchen immer neue Schauspieltalente für unsere Stücke.“
Obwohl Ms. Voigt ein amüsiertes Lächeln mit dem Schulleiter tauschte, wurde Maxim das Gefühl nicht los, dass sie reserviert und distanziert schien. Ein starker Kontrast zu ihren Vorgängern. Allerdings verschwand dieses Gefühl schnell wieder und machte Platz für Vorfreude darauf, was ihn im kommenden Jahr erwarten würde. Die Lehrer bereits zu kennen, würde den morgigen Einstieg in den Unterricht angenehmer gestalten.
Er freute sich auch schon darauf, seine Klassenkameraden kennenzulernen, schließlich kannte er bisher bloß zwei von ihnen. Lilly würde ihm auch im Klassenzimmer Gesellschaft leisten, was eine große Erleichterung war. Es fiel Max nicht schwer, neue Kontakte zu knüpfen, aber jemanden an der Seite zu haben, den man bereits kannte, machte einiges angenehmer. Auch Felix hätte er gerne dazu gezählt, allerdings war die Beziehung der beiden Sandkastenfreunde im Moment noch zu angespannt und das gestrige Wiedersehen war deutlich unterkühlt gewesen. Aber das würde sich schon wieder richten, davon war der Blondschopf überzeugt.
Beinahe unbemerkt und wesentlich unscheinbarer war eine blonde Dame zu dem Rektor getreten und wurde mit einem herzlichen Lächeln begrüßt. „Und nun erlaubt mir, euch eure Erzieherin Scarlett Kensington vorzustellen. Sie wird für euch immer ein offenes Ohr haben, aber auch darauf achten, dass ihr euch an die Regeln haltet.“
Die junge Frau wirkte zurückhaltend, winkte den Schülern aber freundlich und mit einem zarten Lächeln zu. Max glaubte etwas Verlegenheit in ihrem Gesicht zu erkennen.
Mit der letzten Vorstellung endete die Rede jedoch nicht, da Mr. Barnheim seine Stimme erneut erhob: „Mir ist bewusst, dass ihr in einem Alter seid, in dem etwas wie Unterricht und Lernen für die meisten lästig ist. Ich werde euch nun keinen Vortrag darüber halten, wie wichtig es ist, sich Wissen anzueignen. Doch eines möchte ich euch auf dem Weg geben: Selbst wenn der Unterrichtsinhalt dieser Schule auf euch unnötig oder vielleicht sogar albern und sinnlos erscheint, er ist darauf ausgelegt, euch auf euer zukünftiges Leben vorzubereiten. Und damit meine ich nicht nur euer Berufsleben, für das ihr natürlich hervorragend ausgebildet werdet. Ich meine euer Leben in der großen Welt, die nach dem Abschluss auf euch warten wird. Für manche ist sie eine größere Herausforderung als für andere und auf diese Herausforderungen sollt ihr alle vorbereitet werden."
Von der humorvollen und fast schon sanften Art des Schulleiters war in diesem Moment nichts mehr zu erkennen. Seine Mimik trug einen ernsten und entschlossenen Ausdruck, der Maxim kurz sprachlos werden ließ. Mit einer solchen Ansprache hat er nicht gerechnet und musste auch erst über diese Worte nachgrübeln. Es war selbstverständlich für alle Lehranstalten, dass sie ihre Schüler auf ihre Zukunft vorbereiten sollten, aber Max wurde das Gefühl nicht los, dass Mr. Barnheim etwas Weitreichenderes meinte. Auch Lilly schienen die Worte getroffen zu haben, da sie den Blick senkte. Bloß Lewis wirkte unerschütterlich, da er die Rede bereits kannte, wie er zugab.
Im Hintergrund wurden ein paar Geräusche laut und als Max einen Blick über die Schulter warf, erkannte er, wie ein paar Schüler in den hintersten Reihen die Aula verließen. Unter ihnen erkannte er auch einen bekannten schwarzen Haarschopf, der nach nur wenigen Sekunden verschwunden war.
Ohne es zu wollen, zeichnete sich Traurigkeit in den grauen Augen ab. Ob Felix von den erwähnten Herausforderungen betroffen war und sich durch die Rede angesprochen gefühlt hat oder ob er einfach nur die Geduld verloren hatte und lieber gehen wollte, konnte Max nicht mit Gewissheit sagen. Es versetzte ihm einen Stich in der Brust, dass er seinen jahrelangen Freund nicht mehr richtig einzuschätzen wusste.
Als er seinen Blick aber wieder nach vorne richtete, kehrte das gutmütige Lächeln auf den Zügen des Schulleiters zurück, der sich von der ablehnenden Reaktion dieser Schüler nicht beirren ließ.
„Zur Feier des Tages erwartet euch zum Mittagessen ein reichliches Buffet, bei dem ihr zugreifen dürft. Außerdem seid ihr herzlich dazu eingeladen, bereits erste Kontakte zu knüpfen oder uns Lehrern Fragen zu stellen. Bis zum morgigen Unterricht könnt ihr eure Zeit frei nutzen. Damit wünsche ich euch allen einen schönen und erfolgreichen Aufenthalt an der Morrison Memorial School.“
03.09.2018 – Mittag
Morrison Memorial, Mädchentrakt
„Hast du das gerade eben gespürt?“
Aufgeregt griff Nellie nach dem Arm ihrer Schwester und rüttelte sachte daran. Nancy betrachtete sie mit einem zärtlichen Blick, da sie ihren Zwilling nur selten so außer sich erlebte. Sie wusste auch sogleich, worauf Nellie hinaus wollte und antwortete: „Ich habe nichts gespürt.“
„Ist das nicht großartig?“ Befreit atmete Nellie aus und sah lächelnd in den Himmel empor, während die beiden neuen Schülerinnen der Morrison Memorial School auf dem Weg zu ihrem Zimmer waren.
Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass die leise Stimme in ihrem Kopf Ruhe gegeben hatte und die Hintergrundgeräusche samt Gemurmel in der Aula deutlich gedämpft waren. Nellie vermutete, dass es die Lautstärke war, die gewöhnliche Menschen vernahmen. Erst dadurch fiel ihr auf, wie gravierend der Unterschied nicht nur im Bezug auf ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten war. Die Umstellung zum gewöhnlichen Hören war ungewohnt gewesen, doch müsste Nellie lügen, wenn sie behauptete, die Normalität vermisst zu haben, die zurückgekehrt war, als sie die Aula verlassen hatten. Dennoch gaben die erneut säuselnde Stimme und die bekannte Lautstärkewahrnehmung ihr auch eine gewisse Art von Sicherheit.
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