Das schwere Seufzen, das sich aus seiner Kehle verabschiedete, verdeutlichte, wie ausgelaugt und enttäuscht er von der zerstörten Hoffnung auf eine Änderung seiner Zimmergenossen war. Zwar hatte er verzweifelt dagegen argumentiert, den eigentlichen Grund, wegen dem er sich nicht damit abfinden konnte, aber verschwiegen. Wie hätte er ihnen verständlich machen sollen, dass er in Gegenwart seines Bruders und der anderen beiden keine Ruhe finden konnte? Dass die Stimme in seinem Kopf penetrant gegen sie rebellierte und er nichts dagegen unternehmen konnte? Sie hätten ihn für verrückt erklärt und ihm einen Psychotherapeuten gesucht. Felix schnappte erbost nach Luft. Auf diese unwillkommene Hilfe konnte der genervte Impater verzichten.
Den Plan verfolgend, auf dem Sportplatz den Kopf freizubekommen, hielt er lauschend inne, als Max’ munteres Lachen ihn überraschte.
Felix wollte es ignorieren und an seinem Vorhaben festhalten, doch als er aufschnappte, dass sich das Gespräch ums Kickern drehte, wurde der 16-Jährige neugierig. Die ausgelassenen Töne drangen aus dem Gemeinschaftsraum zu ihm durch, auf den er sich zubewegte. Seit langem betrat er das Zimmer wieder, in dem regelmäßig für die einzelnen Jahrgänge Spiele- oder Fernsehabende abgehalten wurden. Angeblich sollte es das Gemeinschaftsgefühl und den Zusammenhalt stärken und eine Vertrauensbasis zu den angestellten Pädagogen schaffen. Felix hatte dafür nur abfällige Ignoranz übrig. Für seine Mitschüler schien alles so einfach zu sein, niemand kannte diese Welt, in denen die Uhren anders tickten.
Wie erwartet stand die Tür offen. Alle waren herzlich eingeladen, sich hier aufzuhalten, weshalb es nicht gerne gesehen wurde, wenn der Eingang versperrt wurde.
Felix’ Blick wanderte im Raum umher. Es war auffällig leer, was in seinem Interesse lag und er sich weiter bis hin zu den flauschigen, bunten Teppichen vorwagte.
Max und Zac standen am Kickertisch vor dem großen Nischenfenster. Sein dritter Zimmergenosse zog es vor, es sich auf einem der vielen Sofas rund um den Flachbildschirm bequem zu machen. Max stand mit dem Rücken zu Felix. Er versuchte seinen Mitbewohner zu überzeugen, eine Runde mit ihnen zu spielen und ignorierte übermütig, dass Lewis sich lieber mit seinem Notebook beschäftigte.
„Wir beide gegen Zac“, sagte Max auffordernd zu ihm. Der schüttelte entschieden den Kopf. „Kickern ist nicht mein Ding.“
„Meins auch nicht so sehr, aber zu zweit schaffen wir es, Zac zu schlagen“, gab Max nicht auf.
Durch ein belustigtes Schnauben, das Felix nicht länger zurückhalten konnte, wurde man auf ihn aufmerksam. Mit jemanden zusammen gegen Zac anzutreten, war die einzige Möglichkeit für Max zu gewinnen. Sofort erhellte sich dessen Gesicht und Lewis durfte sich in Ruhe seinen eigenen Interessen widmen.
„Okay, Lewis, du bist erlöst. Felix spielt in meinem Team!“, bestimmte der Blondschopf und richtete eine frotzelnde Kampfansage an den Gegner: „Jetzt kannst du einpacken.“
Zac zeigte sich siegessicher. „Träumt weiter, Jungs.“
Felix überbrückte mit schnellen Schritten die Distanz zum Kickertisch und schnappte sich gezielt die beiden Griffe für die Angriffspositionen, die Max ihm bereitwillig überließ. Zac hatte sie früher immer geschlagen und knüpfte sein Selbstbewusstsein an die zurückliegenden Erfolge. Er schien nicht zu bedenken, dass sie jetzt keine kleinen Kinder mehr waren, die fasziniert zu dem großen, talentierten Bruder aufblickten.
„Lassen wir alte Zeiten aufleben.“
Ein gut gemeinter Appell an die vergangenen Zeiten löste in Felix nicht die Euphorie aus, die sich Max vermutlich erhofft hätte. Stattdessen wurde eine andere Emotion freigesetzt. Eine, die ihm die Veränderung von früher und heute aufzeigte und Unruhe in dem jungen Impater weckte. In nur wenigen Sekunden wurde sie so stark, dass die Stimme in ihm grollte, sich von diesem Gesindel fernzuhalten. Felix sah kurz vom Spielfeld hoch und entdeckte das warme Lächeln auf den Lippen seines Bruders, während der Blick in die wohlvertrauten Augen einen Konkurrenzkampf andeuteten.
Der Impater sträubte sich, diese Abneigung wieder zuzulassen und das bisschen Vertrautheit aufzugeben, die sich wie ein tapferes Gänseblümchen durch die kalte Schneedecke voller Abweisung und Enttäuschung kämpfte. Seine Andersartigkeit durfte nicht länger über sein Leben bestimmen. Er selbst wollte entscheiden, wen er mochte und mit wem er seine Zeit verbrachte.
Hoch motiviert legte Felix seine Hände um die Griffe und behielt das Spielfeld aufmerksam im Blick. Durch die Verkrampfung traten seine Fingerknöchel deutlicher hervor. Er redete sich ein, sie würde sich in der Hitze des Gefechts ganz von selbst lösen. Ob nun aus Stolz, sich erfolgreich gegen seine Instinkte zur Wehr gesetzt zu haben, oder weil er von dem packenden Match abgelenkt und mitgerissen wurde, war ihm einerlei. Wichtig war nur, dass er dieses Spiel so wie früher genießen konnte.
„Kann’s losgehen?“
Nachdem einstimmig beschlossen wurde, dass sie starten konnten, ließ Max die Kugel von oben in die Mitte des Spielfelds fallen. Klackernd schlug sie auf dem Holz auf. In dem Moment, als der Ball das Spielfeld berührte, durchfuhr Felix ein schrecklicher Ruck, der ihn innehalten ließ. Die Figuren unter seiner Führung rührten sich keinen Millimeter. Er sah, wie der Ball sich bewegte, während die animierenden Rufe ihn kaum erreichten. Das vehemente Wehren gegen die Meinung der Stimme führte nur dazu, dass sie jetzt aggressiver versuchte, sich den Gedanken des Andersartigen zu bemächtigen. Die Stimme grollte und je mehr er sich in Erinnerung rief, dass Zac und Max Menschen waren, denen er vertrauen konnte, desto stärker tobte der Kampf in seinem Inneren. Ein Kampf, den er nicht imstande war zu gewinnen und der ihn schon viele Jahre in die Knie zwang. Zu viele Jahre.
„Alles in Ordnung?“, drang Max’ Stimme skeptisch an seine Ohren, nachdem der Ball direkt vor einem seiner Spielfiguren gelandet war und darauf wartete, im Tor des Bruders versenkt zu werden.
Es war nur ein angedeutetes Nicken, doch der leidende Gesichtsausdruck, der sich ohne sein Zutun gebildet hat, würde Zac und Max eröffnen, wie es tatsächlich um sein Wohlbefinden stand.
Die Hand, die sich fürsorglich nach ihm ausstreckte, wies er ab, indem er resignierend einige Schritte zurückstolperte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Flucht aus dem Gemeinschaftsraum, um die quälende Stimme zu befriedigen, die es ihm nicht erlaubte, das Leben zu führen, das ihn früher glücklich gemacht hat.
Aufgewühlt lehnte er sich gegen die Wand neben der Tür. Er kam gar nicht erst dazu durchzuatmen, denn er ahnte, dass sie ihm folgen würden. Der Teil in ihm, der die Sorge zu schätzen wusste, hatte längst verloren. Ein leiser Fluch polterte über seine angespannten Lippen.
Felix sah sich überstürzt nach einem Versteck um, in dem er erstmal zur Ruhe kommen konnte, bis sich die Rebellion in seinen Gedanken wieder beruhigte. Wie sollte er den beiden erklären, was mit ihm los war? Er verstand doch selbst nicht, wie der andersartige Einfluss die komplette Kontrolle über sein Denken und Handeln übernehmen und er die Nähe seiner engsten Vertrauten nicht mehr zulassen konnte.
Der überschaubare Gang bot neben Durchgängen zu verschiedenen Räumen nicht viele Möglichkeiten und eine Flucht hinaus in den Innenhof war ausgeschlossen. Heitere Stimmen strömten auf ihn ein, deuteten auf eine Ansammlung von Menschen, die er jetzt ebenso wenig ertragen konnte wie die Sorge von Zac und Max.
Ein schwankender Schritt voller Unschlüssigkeit führte ihn zum Heizraum, zu dem Schüler keinen Zutritt hatten. Trotz des Wissens, dass er meistens abgeschlossen war, versuchte Felix sein Glück und legte seine Hand hoffnungsvoll auf den Türgriff. Sein Blick richtete sich gehetzt zum Gang und erkannte so nur aus dem Augenwinkel, dass sich ein schwacher blauer Schimmer um seine Hand abzeichnete. Kurz darauf sprang die Tür auf. Diesen glücklichen Umstand annehmend, huschte er in den Raum und zog lautlos die Tür hinter sich zu. Darauf bedacht zu schleichen, bewegten sich Felix’ Füße geräuschlos über den kalten Boden.
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