Emma hatte sich noch ein wenig umgesehen, aber von dem Gewusel bekam sie Kopfschmerzen. Außerdem standen sogar hier Weihnachtsgestecke herum, und auf Weihnachten hatte Emma noch gar keine Lust.
Schließlich hatte sie das Berufsinformationszentrum verlassen und war die Kurt-Schumacher-Allee hinuntergelaufen, über die Altmannbrücke und die Steinstraße, die dann in die Domstraße mündete. Anschließend hatte sie sich rechts gehalten, bis sie am Rathaus angekommen war. Und nun stand sie auf der Schleusenbrücke im eisigen Wind und blickte in die Alster.
Sie hatte Heimweh. So gerne wäre sie wieder in ihren kleinen, gemütlichen Heimatort an der Ostsee zurückgekehrt und hätte sich in ihrem Elternhaus verkrochen. Aber das wäre nicht mehr das Gleiche wie früher. Ein paar kleine Kinder kamen vorbei und trällerten Weihnachtslieder mit ihren hohen Stimmen. Emma blickte ihnen nach. Weihnachten. Das zweite Mal ohne ihre Eltern. Sie hatte gelesen, dass das erste Jahr nach dem Verlust eines geliebten Menschen das schlimmste wäre. Bei jedem Fest, jedem besonderen Tag würde man denken »letztes Jahr war er oder sie noch da«. Nach einem Jahr würde es dann langsam besser werden. Aber wie war das, wenn man auf einen Schlag zwei geliebte Menschen verloren hatte? Brauchte man dann zwei Jahre, bis es langsam besser wurde?
Sie war sich momentan nicht sicher, ob die Zeit wirklich alle Wunden heilte.
Carla saß in der Vorlesung und versuchte, sich zu konzentrieren. Die letzten Tage waren ruhig gewesen. Emma hatte sich tatsächlich aufgerafft und die Wohnung geputzt. Heute war sie richtig früh aufgestanden um zum Berufsinformationszentrum zu fahren. Carla freute sich, aber sie sah auch, dass Emma manchmal mit verschleiertem, traurigen Blick dasaß, völlig versunken in ihre Gedanken. Immerhin lächelte sie ab und zu wieder.
Der Professor malte eine Grafik an die Tafel. Carla schreckte hoch und zeichnete schnell alles ab. Die Vorlesung wäre gleich vorbei, danach hätte sie zwar noch eine Übung, aber die würde sie ausfallen lassen. Sie wollte lieber nachsehen, wie Emma den Tag in der Stadt hinter sich gebracht hatte.
Als Carla die Wohnung betrat, war es still. Sie schaute in die Küche und in Emmas Zimmer, aber Emma war noch nicht zu Hause. Carla beschloss, schon mal einen Linseneintopf zuzubereiten, Emma liebte dieses Gericht. Sie suchte alle Zutaten zusammen und begann zu kochen. Dabei konnte man herrlich die Gedanken schweifen lassen.
Carla fragte sich, was sie dieses Jahr zu Weihnachten machen wollten. Ihre Tante einladen? Vielleicht noch die Großeltern? Oder wollte Emma wieder alleine bleiben? Sie hatte das Thema noch nicht angesprochen, aus Angst, Emma könne sich wieder total verschließen. Aber sie wollte dieses Jahr wieder feiern, sie hatte doch auch ein Recht darauf, wieder glücklich zu sein.
Emma kam zwei Stunden später nach Hause, durchgefroren, müde und erschöpft. Sie erzählte Carla von den vielen Schülern im Berufsinformationszentrum, davon, dass sie einen Beratungstermin machen wollte, aber am Infostand ständig eine lange Schlange gestanden hatte und dass sie danach erst einmal ewig an der Alster gewesen war.
Dass sie Heimweh hatte und Angst vor der Weihnachtszeit, das erwähnte sie nicht. Und auch Carla sprach dieses Thema nicht an.
So verbrachten die beiden Schwestern den Abend, jede versunken in ihre Gedanken, ohne die andere daran teilhaben zu lassen.
Emma schaute aus ihrem Fenster in den Hof, in dem sich die Bäume im Wind bogen. Sie fröstelte. Gerade hatte sie noch, in eine Decke gekuschelt, versucht, ein Buch zu lesen, aber ihre Konzentration ließ andauernd nach. Ihre Gedanken kreisten um die letzten Tage. Sie hatte viel über sich nachgedacht. Carla hatte recht, sie musste endlich eine Aufgabe finden. Leider war sie sich immer noch nicht sicher, in welche Richtung sie gehen wollte. Ihr fehlten die Gespräche mit ihrer Mutter. Wenn sie an irgendeinem Punkt unsicher gewesen war, was sie tun sollte, hatte es meist schon geholfen, mit ihr zu sprechen. Dabei war Emma sich dann in der Regel schon von alleine darüber klar geworden, was sie wollte. In den letzten Tagen hatte sie versucht, wieder ein geregeltes Leben zu führen. Sie hatte nicht mehr den halben Vormittag im Bett verbracht, sondern sich morgens den Wecker gestellt. Sie hatte die Einkäufe erledigt, damit ihre Schwester nach der Uni oder Arbeit nicht auch noch in Supermärkten herumstehen musste. Obwohl ihr das gerade nicht leicht fiel. Überall war es weihnachtlich geschmückt, aus den Lautsprechern erklangen Weihnachtslieder, es duftete nach Marzipan und Zimt. Doch Emma verband mit diesen Gerüchen, Düften und Liedern nicht mehr die selige Vorweihnachtszeit. Immer wieder kamen ihr die Erinnerungen an das letzte Jahr hoch, als sie gerade ihre Eltern verloren hatte. Früher hatte sie diese Zeit geliebt, momentan fiel ihr das jedoch sehr schwer.
Emma ging in die Küche, um sich einen Tee zu kochen. Sie wühlte gerade in der Schublade mit den verschiedenen Sorten, als plötzlich ein Knall ertönte. Emma fuhr herum. An der Scheibe des französischen Balkons, der sich an der Küche befand, entdeckte sie einen winzigen, roten Fleck. Vorsichtig näherte sie sich der Balkontür. Draußen, auf dem kleinen Balkon, saß ein benommener Spatz mit einer kleinen Wunde über dem Schnabel. In dem Moment nahm Emma eine Bewegung schräg über sich war. Eine Krähe näherte sich, bereit, sich auf den kleinen Spatz zu stürzen. Geistesgegenwärtig öffnete Emma die Balkontür, die Krähe drehte ab und Emma hockte sich nieder. Sie betrachtete den Spatz genauer. Dieser war noch recht klein und schaute sie aufmerksam an. Merkwürdigerweise schien er gar keine Angst vor ihr zu haben. Er zitterte ein wenig und Emma schob vorsichtig die Hand unter seinen kleinen Bauch. Der Spatz setzte sich auf ihre Hand und sie trug ihn in die Küche, wo sie ihn erst einmal auf den Tisch setzte.
»Was mache ich denn nun mit dir?« Emma schaute den Spatz an. Der legte den Kopf schief und musterte Emma eindringlich mit seinen schwarzen, glänzenden Augen. Ein Schauer durchfuhr Emma. Diese Geste erinnerte sie so sehr an ihre Mutter, die hatte den Kopf auch immer so schiefgelegt, wenn sie ihr aufmerksam zugehört hatte.
»Mama, bist du das?«, hauchte Emma. Im selben Moment kam sie sich albern vor. Sie glaubte nicht an übernatürliche Dinge. Aber dieser Blick. Der verwirrte sie schon.
»Da rede ich mit dir, als wärst du ein Mensch. Albern, oder? Ich schaue mal, ob ich irgendetwas zu essen für dich finde.«
Emma kramte zwei kleine Schälchen hervor, füllte die eine mit Wasser, die andere mit Brotkrumen und stellte die beiden Schälchen neben den Spatz auf den Tisch. Der kleine Vogel tapste zum Wassernapf und trank ein paar Schlucke, dann schüttelte er sich, steckte den Kopf zwischen seine Flügel und schlief ein.
»Anscheinend fühlst du dich hier wohl. Na, da haben wir wohl einen Gast.« Emma blieb am Küchentisch sitzen und beobachtete den kleinen Vogel noch eine ganze Weile. Es war das erste Mal seit langem, dass sie völlig entspannt und zufrieden war.
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