David drückte die Packung mit den Beeren auf sein linkes Auge, welches vor wenigen Minuten der betrunkene und gefrustete Cal Hillton versucht hatte, zu malträtieren. Inzwischen war es etwas angeschwollen und färbte sich bereits unter dem Augapfel leicht bläulich. Mit Schwung warf er die Tür zu.
„So eine Scheiße!“, brüllte er sich selbst an und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Küchenablage auf. Der gesamte Tag war ein einziges Desaster, und mittlerweile war er noch gereizter als heute Nachmittag, als seine vom Feiern übermüdete Mutter ihn aufgefordert hatte, sich für sein Verhalten und seine berechtigten Kommentare zu entschuldigen.
„Schatz, was ist los?“, fragte seine Mutter, die um die Ecke kam und immer noch dasselbe Outfit wie vor einigen Stunden trug.
„Wonach sieht es denn aus?“, entgegnete er genervt und starrte die blassgelbe Küchenwand vor sich an.
„Was meinst du?“ Verbittert erhob er sich aus seiner gebeugten Position und offenbarte seiner Mutter sein wachsendes Veilchen am linken Auge.
„David, was ist passiert?“, fragte sie erschrocken, „Bist du dem Abhängigen über den Weg gelaufen? Hat er dir das angetan?“
„Verdammte Scheiße, Nein! Lass doch endlich Trae aus deinen Fantasien raus, Mom!“, brüllte er ihr wütend entgegen und stützte sich wieder mit den Ellenbogen auf der Ablage auf. Seine Mutter war zwar verärgert über seinen Ausbruch, brachte dem jedoch nichts entgegen, da sie selbst wusste, dass es ungerecht war, direkt auf Trae zu schließen. Schließlich macht der Drogenkonsum einen Menschen nicht automatisch zum Schläger oder zu einem schlechten Menschen.
„Mr. Hillton hat mich geschlagen. Er war betrunken und dachte, ich hätte Zoe verletzt und sie absichtlich mit einer Glasscherbe geschnitten. Er hält mich für irgend so einen Pädophilen, glaube ich, der seine Tochter anfasst und irgendwelche kranken Fetische an ihr ausüben würde“, erklärte er seiner Mutter mit gedrosselter Lautstärke. Wie erwartet reagierte seine Mutter nicht. Alles, was sie tat, war ihm sanft den Arm um die Schulter zu legen. Keine tröstenden Worte oder eine Empörung über sein Verhalten. Einfach nur ihr Arm und seine Schulter. Genau wie früher schon, war sie unfassbar schlecht darin eine Mutter zu sein und sich wie eine zu verhalten. Sie scheute sich nicht einmal davor, ihr Desinteresse offen zu zeigen. Der einzige Versuch, einen Hauch an Interesse vorzutäuschen, bestand darin, dass sie sich überhaupt dazu herabließ, ihn zu fragen, was passiert sei.
„Wie ist es ausgegangen?“, erkundigte sie sich, wobei die Frage nach dem Ausgang der Situation aus ihrem Munde so klang, als würde sie nach den Ergebnissen vom Sport fragen, und nicht nach der körperlichen Auseinandersetzung ihres Sohnes mit dem betrunkenen Mr. Hillton.
„Ich habe versucht, mich zu wehren“, erzählte er.
„Ich habe ihm einen Kinnhaken verpasst. Er fiel hin und musste sich übergeben. Ich habe ihm scheinbar einen Zahn ausgeschlagen, jedenfalls hat er ein Stück davon ausgespuckt.“
Enttäuscht von sich selbst senkte er den Blick. Sein Vater hatte ihm früher beigebracht, dass, wenn jemand ihm auf die Wange schlägt, er auch die andere hinhalten solle. Er hatte gesagt, dass das eine von Jesus‘ Lehren aus der Bibel sei und er sich daran halten müsse und keinem Schaden zufügen dürfte, schließlich sei er ein guter Christ, was er in Wirklichkeit ganz und gar nicht war. Was er ihm jedoch nicht erzählt hatte, war, dass Jesus, wenn ein übergewichtiger, wütender Ex-Security auf ihn einschlagen würde, er sich diese Worte wahrscheinlich noch einmal gut überlegt hätte.
„Ich bin stolz auf dich“, sagte seine Mutter, womit sie erneut ihre Unfähigkeit bestätigte. Kein vernünftiges Elternteil würde seinem Sohn sagen, dass es stolz auf ihn wäre, wenn er einen Mann, der ihn geschlagen hatte, zurückgeschlagen hätte. Ein verständnisvolles „es war nicht deine Schuld, du hast dich schließlich nur gewehrt“ wäre die deutlich neutralere und pädagogisch wertvollere Aussage gewesen.
„Als ob du wüsstest, was es heißt, stolz auf mich zu sein“, entgegnete er ihr schlagkräftig und entzog sich ihrer Umarmung.
„Was soll das schon wieder heißen?“, fragte Faye aufgebracht.
„Sag mal, ist eigentlich alles, was ich sage, so ein großes Rätsel für dich?“
Seine Mutter reagierte nicht.
„Du hast doch keine Ahnung was es heißt stolz zu sein! Was du als Stolz bezeichnest, ist einfach nur deine Ignoranz und deine elende Vorstellung, alles zu wissen und jedem etwas vormachen zu können!“ Während er seine Schimpftirade hielt, entfernte er sich immer weiter von ihr, wobei er ihr jedoch weiterhin in die Augen sah. Er wollte, dass sie sah, wie ernst es ihm war. Ansonsten würde sie wieder mithilfe ihrer Klatschblattweisheiten schlussfolgern, dass er, wenn er sich von ihr abwendete, einfach zeigte, dass er verletzt wäre. Dies müsste dann nicht einmal auf sie zurückzuführen sein, hatte sie gelesen. Jedenfalls redete sie sich das ein, denn in Wahrheit hatte sie noch nirgendwo gelesen, dass der Angesprochene somit von jeder Schuld ausgenommen werden konnte.
„Toll, dass du dem Nachbarsjungen den Ball gestohlen hast, weil er ihn ausversehen auf unser Grundstück geschossen hat. Gut gemacht, ich bin stolz auf dich! Ja, wie wunderbar, dass du zugesehen hast, wie ein Kind, das neu an der High School war, von vier Jungen, die drei Jahre jünger als du sind, verprügelt wurde und nichts getan hast! Das hast du erstklassig gemacht! Super, dass du Mr. Hillton einen Zahn ausgeschlagen hast, weil man ja Schläge mit Schlägen vergelten soll! Noch besser wäre es gewesen, wenn er jetzt im Krankenhaus liegen würde, denn dann könnte ich noch viel stolzer auf dich sein!“, imitierte er lauthals seine Mutter. Doch dann geschah etwas, was er seit der Scheidung seiner Eltern nicht mehr gesehen hatte. Sie begann zu weinen. Nicht schluchzend oder irgendwie hörbar, aber man konnte beobachten wie einzelne, glänzende Tränen ihre Wangen hinunterkullerten. Jetzt drehte David sich doch von seiner Mutter weg und wagte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Er hatte Sorge ein schlechtes Gewissen zu bekommen, nur, weil er das ausgesprochen hatte, was er schon längst hätte aussprechen sollen. Der Knoten war gewissermaßen geplatzt. Nach mehreren Jahren vergeblicher Liebesmüh, seiner Mom auf irgendeine Weise beizubringen, dass sie als Mutter ein einziger Katastrophenfall war, hatte er es nun nach diesem mehr als entnervenden Tag vollbracht, es ihr offen ins Gesicht zu schmettern. Aber er durfte jetzt nicht einlenken, denn wenn er das täte, dann würde sie es ganz einfach überspielen und vergessen lassen. Genau jetzt war der Zeitpunkt, reinen Tisch zu machen. Doch wozu noch? In nicht allzu langer Zeit würde er hier verschwinden und sich sein eigenes Leben aufbauen, fernab von alledem was ihn hier nur bedrückte. Er entschied sich, es nicht als Vorwurf oder beleidigend weiterführen zu wollen, sondern ihr es als Rat und Bitte für die Zukunft offenzulegen.
„Du hast mir nie irgendwelche Regeln aufgestellt oder mir gesagt, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Du hast mich nie wirklich erzogen. Du hast dich nie für das interessiert, was ich getan habe oder für das, was Bobby getan hat als er noch da war. Du hast dich nie für einen von uns beiden interessiert. Nie habe ich mich mit dir über meine Probleme aussprechen können, nie habe ich etwas Zuneigung oder Aufmerksamkeit von dir verlangt, weil du nie jemanden um dich wolltest, der auch nur eine Sekunde über seine eigenen Probleme sprechen wollte“, erzählte er ihr. David drehte sich erneut zu ihr um, um ihr in die Augen sehen zu können. Der Fluss an Tränen hatte nachgelassen und eine dünne glitzernde Spur auf ihren Wangen nach sich gezogen.
„Mom, was ich dir damit sagen will…“ Faye hob ihre Hand, um ihm zu signalisieren, dass er aufhören solle, weiter zu sprechen. Sie hatte sich genug Schwachsinn - welcher eigentlich keiner war - vorwerfen lassen müssen. Für sie war die Grenze nun lange überschritten. Ihre Entscheidung war gefallen. Nichts und niemand hätte sie nun noch umstimmen können.
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