Taylor versuchte es ein zweites Mal, mit seiner Frau zu sprechen, doch sie nahm sein Gespräch nicht entgegen. Kurz entschlossen legte er die Hausarbeiten seiner Studenten in den Safe, versperrte diesen und machte sich sofort auf den Weg in die Ordination. Er konnte nicht bis am Abend warten; zu groß war die Neugierde, welches Phänomen sich vor drei Stunden abgespielt hatte, von dem sie auf seiner Mailbox gesprochen hatte.
Rosalie schilderte kurz, was los war und komplimentierte ihn mit dem Versprechen, zu Hause alles ganz genau zu erzählen, aus der Praxis. Immerhin warteten noch vier Patienten darauf, von ihren Leiden geheilt zu werden. Danach standen noch einige Hausbesuche auf dem Plan, die wohl allesamt länger dauerten. Die alten Menschen waren einsam und froh, wenn sie jemanden zum Reden hatten. Rosalie fragte sich immer, ob sie nicht auch einmal froh sein würde, wenn sich ihre Ärztin im Alter mit ihr unterhalten würde anstatt nur ein Rezept auszustellen und zu gehen. Deshalb blieb sie immer ein wenig bei ihnen um deren Gemüt wieder aufzupolieren. Und mittlerweile waren es ihre Patienten schon gewohnt. Nun konnte sie nicht mehr so einfach ohne Unterhaltung gehen, aber das war schon in Ordnung. Schließlich war sie nicht des Geldes wegen Ärztin geworden, sondern aus Liebe zu den Menschen.
Als sie kurz vor achtzehn Uhr das Haus betrat, hing bereits der unverkennbare Duft von heißer Lasagne in der Luft. Zwar wusste sie, dass Taylor sie aus der Tiefkühltruhe geholt und nicht selbst zubereitet hatte, aber sie war dennoch froh, sich nicht mehr an den Herd stellen zu müssen. Es war ein anstrengender Tag gewesen und sie war müde. Auch der Vorfall bei Sandy hatte sie psychisch ziemlich mitgenommen, weshalb sie jetzt noch eine Spur müder als an üblichen Arbeitstagen war.
Taylor trug sofort das Essen auf, setzte sich und sah sie mit großen Augen, aus denen die Erwartung wie Wasser aus einem Staudamm floss, an.
Rosalie wusste, dass sie gegen die ärztliche Schweigepflicht verstieß, sah sich aber dennoch moralisch verpflichtet, ihm von dem Vorfall in Sandys Haus zu erzählen. Er hörte aufmerksam zu und presste die Oberschenkel fest aneinander, als sie die Verletzungen, die Sandy ihrem Lover zugefügt hatte, schilderte. Als Mann konnte er den Schmerz förmlich spüren.
„Und du sagst, sie wusste nicht, weshalb sie ihm den Penis zerfleischt hat? Es ist einfach so über sie gekommen, wie der Suizidversuch von Benny? Meinst du, es war der gleiche ….. sagen wir mal Mechanismus?“
Rosalie nickte nur, weil sie sich gerade eine Gabel voll Lasagne in den Mund gesteckt hatte. Die Fleischfüllung schmeckte ein wenig künstlich, aber sonst war sie ganz in Ordnung. Aber nach einem langen, harten Arbeitstag war wohl alles in Ordnung, das den Magen füllte, heiß war und das nicht mit Arbeit verbunden war.
Taylor legte noch immer etwas irritiert ein neues Blatt für den Vorfall mit Sandy an und berichtete ihr anschließend von seinem Telefonat mit dem Bürgermeister. „Weder er noch die Gemeindeangestellten hatten eine Anfrage erhalten noch eine Genehmigung für den Jahrmarkt erteilt. Er ist so plötzlich auf der Festwiese gestanden wie er wieder weg war. Der Bürgermeister wollte eigentlich heute am Morgen mit den Leuten reden und die Platzmiete kassieren, aber da war schon alles weg. Er war ebenso erstaunt wie wir, dass sie keinerlei Spuren hinterlassen hatten. Normalerweise mussten die Gemeindebediensteten am Montag noch tonnenweise Becher, Teller und Flaschen einsammeln.“
„Also kommen wir über diesen Weg auch nicht weiter“, kommentierte sie seine Ausführungen. Er schüttelte nur den Kopf und hob die Schultern an. „Es ist aber auch nicht wichtig, wir haben im Moment Wichtigeres zu tun. Wenn der Bürgermeister seine Pacht für die Wiese haben will, muss er zusehen, dass er sie bekommt. Es ist nicht unser Problem“, sagte er und lehnte sich zurück.
„Und wie willst du mit den Phänomenen weitermachen? Langsam häufen sie sich und ich fürchte, es werden noch schlimmere Dinge passieren. Was mir auch ziemliche Sorgen bereitet sind die Farben der Natur. Ob man eine Analyse der Wiesen und Bäume veranlassen sollte? Möglicherweise ist es ein Farbstoff, der gesundheitsgefährdend für die Bevölkerung ist. Ich werde gleich morgen ein paar Tests veranlassen. Als Gemeindeärztin steht mir das zu.“
Taylor nickte. „Gute Idee! Vielleicht klärt sich dann auch gleich das Phänomen von selbst. Kann es sein, dass ein Farbstoff oder etwas, das durch die Luft übertragen wird, diese Phänomene hervorruft? Dass der Stoff in das Gehirn der Menschen eindringt und dort Veränderungen hervorruft oder so etwas Ähnliches.“
Rosalie dachte kurz nach. „Möglich wäre es, natürlich, aber ich habe noch nie davon gehört. Was aber auch nicht heißt, dass es nicht schon vorgekommen wäre. Ich werde morgen mal im Internet recherchieren; vielleicht finde ich den einen oder anderen Beitrag dazu. Aber jetzt möchte ich nur noch blöd in en Fernseher glotzen um meinen Kopf wieder frei zu bekommen. Der Tag heute war echt hart!“
Der neue Morgen zeigte sich ein wenig wolkenverhangen. Rosalie blieb auf der Veranda stehen und sah auf das Meer hinaus, das mit seinen leichten, aber sehr spitzen Wellen die Wolken zu berühren schien. In der Mitte der dunkelgrauen, regengeschwängerten Wolken schimmerte ein Licht, als ob sich ein Blitz darin verstecken würde. Ein kleines Gewitter in jeder Wolke, in der es von grellem Weiß bis zum sanften Gelb schillerte und leuchtete. Rosalie wusste nicht, ob sie dieses unnatürliche Schauspiel als bedrohlich oder als faszinierend betrachten sollte. Vermutlich war es beides, doch sie war sich ihrer Gefühle nicht sicher. Sie hatte auch Hemmungen, aus dem Schutz des breiten Verandadachs hinaus unter den freien Himmel zu treten. Mit einem Schirm über dem Kopf fühlte sie sich zwar nicht sicher, aber doch ein wenig besser, obwohl ihr bewusst war, dass er im Fall eines kontaminierten Regens völlig sinnlos war. Manchmal aber braucht der Mensch nur etwas, um sich daran fest zu halten, dachte sie und stürmte im Laufschritt auf das Haus ihrer Nachbarin zu.
Als sie die Tür öffnete, blieb sie stehen und lauschte. Sie rechnete irgendwie damit, dass Marisha herumkramte, doch sie hörte nicht den geringsten Laut. „Marisha?“, fragte sie zögerlich in den Raum hinein, erhielt jedoch keine Antwort. Mit fröstelnden Oberarmen schlich sie vorsichtig zum Schlafzimmer und spähte um die Ecke. Ihre Nachbarin und Freundin lag in ihrem Bett und war tot. So tot wie vor vierundzwanzig Stunden.
Rosalie atmete hörbar aus und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Aber dieses Mal nicht, um ihr eine Geschichte vorzulesen, sondern um sich endgültig von ihr zu verabschieden. Marisha war tot und würde wohl nicht wieder lebendig werden. Und das war gut so! Sie freute sich über diese Normalität wie über ein Wunder.
Nachdem sie der alten Frau die Decke über den Kopf gezogen hatte, warf sie wieder einen Blick auf das Meer. Die spitzen Wellen drängen sich nun in Richtung Himmel, der jetzt noch tiefer zu hängen schien als noch vor wenigen Minuten. Sie hatte den Eindruck, als wollten die Spitzen der Wellen die Wolken aufstechen, um das gelb-weiße Farbenspiel ins Meer laufen zu lassen. Rosalie fröstelte erneut und sie lief geduckt unter dem Schirm zu ihrem Auto um in die Ordination zu fahren. Zu allererst würde sie Marishas Tochter sowie den Leichenbestatter informieren. Den ärztlichen Totenschein hatte sie gut sichtbar auf dem Küchentisch hinterlassen.
Obwohl in der Praxis schon sieben Patientinnen warteten, nahm sie sich die Zeit für ein ausführliches Gespräch mit Marishas Tochter. Sie hatte sie nie so richtig kennen gelernt, denn sie war nur sehr selten zu Besuch bei ihrer Mutter gewesen, und sie wollte sie auch jetzt nicht mehr kennen lernen. Ihr war nur wichtig, dass ihre Freundin und Nachbarin ein wirklich gutes Begräbnis bekam. Das hatte sie sich allemal verdient.
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