„Sag ihm liebe Grüße, Ma“, sage ich stattdessen. „Ich muss jetzt noch zur Arbeit.“
Bevor meine Mutter noch weitere Fragen stellen kann – und das würde sie mit Sicherheit gerne tun, man muss bei ihr ziemlich auf der Hut sein -, lege ich rasch auf. Dann bleibe ich auf dem Sofa sitzen, als wäre ich dort festgetackert.
Ich muss jetzt noch zur Arbeit…
Eine ziemlich dreiste Lüge, angesichts der Lage. Denn was meine Eltern nicht wissen: vor über einem Jahr habe ich meinen sicheren und gar nicht so schlecht bezahlten Job als Lehrerin an der Portobello High School gekündigt und verdiene meinen Lebensunterhalt als Schriftstellerin. Das klingt nun wirklich nicht so schlimm, dass man es vor seinen Eltern geheim halten müsste. Es sei denn…
„Es sei denn, man kann nicht mehr arbeiten gehen und hat glücklicherweise ein Hobby, das recht erträglich ist und ein Haus, für das man weder Miete, noch eine Hypothek zahlen muss.“
Ich stöhne auf und raufe mir die roten Locken, während ich in der Küche an dem kleinen Tisch aus Kiefernholz sitze und warte, dass Izzy mit dem Tee fertig wird, den sie gerade aufbrüht.
„Wann willst du es ihnen denn endlich sagen?“, fragt meine beste Freundin und stellt einen dampfenden Becher vor mich hin.
Der Duft von Kamillenblüten steigt mir in die Nase und ich atme tief ein und aus.
„Nie.“, antworte ich wahrheitsgemäß.
„Das kannst du nicht machen!“
„Kann ich nicht? Du siehst doch, wie gut das geht.“
„Irgendwann werden sie es merken.“
„Was? Dass ich nicht mehr in der Schule arbeite? Ich wüsste nicht, wie sie es erfahren sollten.“
„Das meine ich nicht.“
Izzys Stimme klingt ungeduldig und versetzt mich in einen Zustand permanenter Anspannung. Meine Handflächen beginnen feucht zu werden und mein Herz klopft etwas heftiger als noch kurz zuvor.
Natürlich weiß ich, was sie mir sagen will - und was sie mir mit Sicherheit mit der schonungslosen Offenheit einer besten Freundin an den Kopf schleudern wird. Fast bedauere ich, dass ich sie nach meinem Telefonat mit Ma angerufen habe, um sie für heute einzuladen.
„Dein Radius wird immer kleiner, Lauren.“
„Das ist nicht wahr“, protestiere ich schwach, will hinzufügen, dass sich mein Zustand seit meinem großen Zusammenbruch vor etwas über einem Jahr nicht verändert hat. Aber es wäre eine Lüge und tief in mir drinnen weiß ich das auch. Vor einem Jahr bin ich noch einkaufen gegangen. Nicht gerne und nicht oft und am Liebsten auch nicht alleine. Aber ich bin gegangen.
„Wohin gehst du, außer zum Arzt?“
Mist! Mit dem Zusatz ist sie meiner Antwort zuvor gekommen. Außerdem habe ich irgendwie das Gefühl, als hätte ich ein Déja-vu. Nur mit Izzy als Großinquisitor statt Dr. Walker.
„Ich fahre ab und an zu dir.“
Izzy schüttelt den Kopf mit dem glatten blonden Haarschopf und ahmt das Geräusch eines Buzzers nach, wie bei dieser Castingshow, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann.
„Du warst schon ewig nicht mehr bei mir, denn dazu müsstest du ja Bus und Bahn fahren oder in dein Auto steigen.“
„Ich fahre Auto!“ Triumphierend hebe ich den Zeigefinger in die Luft. „Ich bin regelmäßig bei Heather im Büro.“
Zufrieden sehe ich Izzy an, muss aber feststellen, dass sie wieder nur den Kopf schüttelt.
„Du triffst Heather nur, wenn es sich per Email nicht erledigen lässt. Was äußerst selten der Fall ist. Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“
Ich muss nachdenken, was ja tendenziell eher schlecht ist. Es kann sein, dass es ein Weilchen her ist, da ich bei meiner Lektorin war. Genaugenommen drei Monate, als mein neuestes Buch fertiggestellt war und sie mit mir Vorschläge für das Cover durchgehen wollte. Außerdem ist mein Verlag in Leith, was bedeutet, dass ich nicht weit fahren muss. Schweiß rinnt mir den Rücken hinab, als ich daran denke, wie ich vor gut drei Monaten das letzte Mal in meinen Vauxhall Corsa gestiegen bin und mein Atem beschleunigt sich allein bei der Vorstellung, es wieder tun zu müssen.
Ich knabbere verlegen an meiner Unterlippe herum und sage gar nichts.
„Bis nach Leith ist es ja nicht allzu weit. Aber wann warst du das letzte Mal bei mir in North Berwick?“
„Warum musstest du mit Rory auch so weit weg ziehen?“, antworte ich mit einer Gegenfrage, dabei ziehe ich einen Schmollmund.
„So weit ist eine Autofahrt von einer Stunde nun wirklich nicht. Aber darum geht es doch auch gar nicht. Dieses Haus ist wie ein Gefängnis, Lauren. Zugegeben, ein recht nettes Gefängnis. Aber du kannst nicht dein ganzes Leben nur hier verbringen.“
„Ich weiß“, flüstere ich leise und umfasse meinen heißen Becher mit beiden Händen, als könne ich mich an der trostspendenden Wärme festhalten. „Ich war heute bei Dr. Walker.“
Izzy ist wenig überrascht. Schließlich gehören die Besuche bei Dr. Walker zu meiner Routine und Izzy, als meine beste Freundin – und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, meine einzige noch verbliebene – kennt mich sehr genau.
„Lass mich raten… Er hat dir zum wiederholten Male bestätigt, dass du kerngesund bist und nichts weiter getan.“
Ich grummele irgendwas zwischen Zustimmung und Verneinung und senke den Kopf, um an meinem Tee zu schnuppern. Er riecht irgendwie tröstlich.
„Wie oft soll er dir noch sagen, dass du nichts hast?“ Izzy beugt sich über den abgenutzten Holztisch zu mir hinüber und legt ihre Hand auf meine. „Dir fehlt nichts.“
Ich blicke zu ihr auf, weiß nicht so genau, was ich empfinden soll. Einerseits steigt Wut wie ein roter Feuerball in mir hoch. Ob auf Izzy oder auf mich selbst kann ich nicht so genau sagen. Andererseits will ich gerne an ihrer Aussage herumkritisieren, aber mir ist selbst klar, dass sie Recht hat. Also überwiegt das bleierne Gefühl der Trauer, das mich so oft umgibt, wenn ich darüber nachdenke, wie ich seit nun fast einem Jahr lebe und es breitet sich rasend schnell in meinem Körper aus und legt sich auf meinen Brustkorb, der sich plötzlich seltsam schwer anfühlt und ich merke kaum, wie mir Tränen in die Augen treten.
„Lass uns rausgehen“, bettelt Izzy wenig später, während ich mir geräuschvoll die Nase putze.
Vermutlich ist sie leuchtend rot von meinen wiederholten Bemühungen, sie endlich wieder frei zu bekommen. Was ich am Heulen am Meisten hasse, ist nicht, dass meine Nase nicht mehr hübsch aussieht, denn das tut dieser Zinken ähnlich einer Skiabschussrampe ohnehin in meinen Augen nie, sondern dass sie so schrecklich verstopft ist, dass ich gezwungenermaßen durch den Mund atmen muss. Und zwar nur durch den Mund.
In der dritten Klasse hat uns unser Klassenlehrer, Mr. MacGillivray, erklärt, dass das Herz doppelt so viel arbeiten muss, wenn man durch den Mund einatmet und man es dadurch dauerhaft schädigt. Ich habe nur sehr wenig behalten, was dieser Mann mir beigebracht hat, denn ich konnte ihn nicht besonders leiden, aber genau das habe ich mir gemerkt und obwohl ich mir nie die Mühe gemacht habe, nachzulesen, ob er Recht hatte, schiebe ich jetzt immer Panik, wenn ich nur durch den Mund atmen kann. Dass die Schleimhäute durch das wiederholte Schnäuzen nur weiter gereizt werden, ignoriere ich komplett.
„Ich kann nicht“, antworte ich mit näselnder Stimme.
Izzy zieht einen Schmollmund, der jeden Mann um den Verstand bringen würde. Einen guten Mann hat sie sich damit schon eingefangen: ihren Ehemann Rory. Das könnte aber auch daran liegen, dass sie insgesamt einfach umwerfend aussieht und dazu noch unkompliziert und nett ist – eine seltene Kombination.
„Natürlich kannst du das. Komm, wir gehen was trinken.“
„Rory wird dich vermissen“, protestiere ich schwach, woraufhin Izzy nur lacht.
„Der ist heute bei seinen Eltern, und ich bin heilfroh, wenn ich nicht mitkommen muss. Es reicht schon, wenn sie ihn um den Verstand bringen, ich will meinen noch behalten.“
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