Anscheinend hatte es Sarah der Bestie nicht unbedingt einfach gemacht. Dennoch wurde sie gefangen und es lag an ihm sie zu befreien. Doch konnte er das wirklich? Er lauschte in sein Inneres. Hörte das schnelle Schlagen seines Herzens und wie der Puls in seinen Ohren pochte.
Dennoch verspürte er keine Angst. Er hatte keine Furcht vor diesem Tier. Denn auch wenn es grausam aussah, es wirkte nicht so. Es hatte in keiner Sekunde Bedrohung ausgestrahlt und wahrscheinlich hatte es auch seine Gründe, warum es Sarah entführt hatte.
Sebastian atmete noch einmal tief ein und aus, bevor er sich dann abwandte und das Haus verließ. Seine Schritte führten ihn zielstrebig zu dem Wald, der das Dorf umschloss, um dann in dessen Schatten einzutauchen. So schnell wie möglich, bevor die Angst zurückkam und den Mut verschlang. Er musste sie retten. Nur er alleine. Das wollte die Bestie so und auch wenn Sebastian es nicht verstand. Vielleicht war jetzt der Tag gekommen, an dem er sich verändern konnte. An dem er endlich beweisen konnte, was in ihm steckte...
Der Weg war matschig von dem Tauwasser des Schnees und ließ die Füße des Jungen immer wieder ein Stück weit versinken. Sebastian wusste nicht, wo er hin musste, doch er folgte einfach seiner Nase. Irgendein Gefühl sagte ihm, dass es der richtige Weg war.
Vielleicht lag es daran, dass es nur diesen einen zu geben schien. Die Bäume wichen vor ihm zurück. Öffneten sich oder verschlossen sich vor ihm. Unbekannte Geräusche drangen an sein Ohr, die ihn das Blut in den Adern gefrieren ließen.
Die Bäume schienen immer näher zu kommen. Sebastian begann bei jedem Geräusch zusammen zu zucken und sich panisch umzudrehen. Doch er erkannte in der Dunkelheit nichts außer tanzenden Schatten, die sich in seinem Geist zu grausigen Gestalten formten.
„Weitergehen. Immer weitergehen, Sebastian. Du darfst keine Angst haben. Nichts in diesem Wald kann dir gefährlich werden. Einfach weitergehen. Du musst deine Schwester befreien. Sonst ist doch niemand da, der das tun könnte. Sie verlässt sich auf dich. Du darfst jetzt nicht kneifen“, versuchte er sich selbst Mut zuzureden, wobei er plötzlich ein lautes Knacken hinter sich hörte und mit einem Schrei umfuhr.
Doch dort war nichts. Nur die Dunkelheit mit ihren flackernden Schatten. Sebastian atmete erleichtert aus und war dabei sich zu entspannen. Er drehte sich wieder um und erneut entfuhr ihm ein Schrei, denn vor ihm auf dem Weg stand das Wesen. In sicherere Entfernung und so dass er nur ihre Umrisse erkannte.
„Du bist doch kein Feigling. Hast dich getraut in der Nacht hier in meinen Wald zu kommen. Wusstest du nicht, dass ich jeden töte der ihn in der Nacht betritt? Ja... Ich bin das Monster, das die Bewohner verzweifeln lässt. Und ich bin auch daran schuld, dass es kaum noch Wild hier in den Wäldern gibt. Denn ich habe Hunger. So unsagbar viel Hunger.
Doch wenn ich dann etwas gefunden und gefangen habe, bin ich satt. Ich brauche nur meine Zähne in ihr Fleisch bohren und das warme Blut auf meiner Zunge schmecken, dann bin ich satt. Doch kaum lass ich von ihnen ab, verstärkt sich wieder mein Hunger. Selbst wenn ich sie esse. Später kotze ich sie wegen zu vollem Magen aus. Ich bin verflucht. Verflucht von einem Wesen, das du nicht kennst. Und nur einer kann mich erlösen.
Doch diese Person habe ich noch nicht gefunden. So oft wollte ich mich töten lassen. Doch kaum haben sie mich angegriffen, schlug ich sie tot. Ich hab es nicht leicht. Nur weil ich zu neugierig war. Weil ich jemanden helfen wollte, den man nicht mehr helfen konnte. Bitte... finde diese Person für mich. Ich habe schon viel zu viel opfern müssen.
Ein Auge zum Beispiel. Aber ich sehe noch genauso gut wie mit zwei. Schmerzen spüre ich keine mehr. Was bin ich nur für ein Monster geworden? Sieh mich an und sag mir was oder wer ich bin!“, hörte er eine dunkle Stimme, die voller Verzweiflung und Schmerz war.
„Du bist ein verstümmeltes Tier. Siehst aus wie ein Wolf aber gehst auf zwei Beinen. Hast nur ein Auge und überall Narben. Deine Glieder sind ungleich lang. Tja, ich würde sagen, dass du ein Werwolf bist, der ein wenig zu viel einstecken musste“, erwiderte er.
„Du bist ehrlich. Das muss ich dir wirklich lassen. Darum werde ich dich nicht umbringen. Aber wenn ich dich jetzt zu deiner Schwester bringe, dann versprich mir, dass du mir hilfst wieder ein ganz normaler Junge zu werden. Denn ich habe das Leben als Bestie wirklich satt“, sagte das Biest, zu Sebastians Überraschung ohne jegliche Wut.
„Ich würde gerne erst einmal meine Schwester sehen und dann können wir ja besprechen, wie es weitergeht. Denn ich bin mir nicht sicher, ob ich dir wirklich helfen kann“, meinte der Junge ruhig und das Biest sah ihn gelassen an: „Ich verstehe. Folge mir. Aber komm mir bitte nicht zu nahe. Das könnte dir nicht gut tun.“
Sie wandte sich ab und schritt voraus, wobei Sebastian zur Verfolgung ansetzte. Der Wald veränderte sich in der Nähe des Monsters. Es wirkte, als würde er vor ihr zurückweichen und neue Wege entstanden, die vorher nicht da waren. Da war sich Sebastian mehr als sicher.
Dennoch verwirrte ihn das Verhalten der Bestie viel mehr als das Verhalten des Waldes. Warum war sie plötzlich so freundlich? Warum wollte sie auf einmal, dass er ihr half? Eigentlich war sie doch sein Feind. Warum sollte er sich mit ihr verbrüdern? Aber was würde wohl mit seiner Schwester passieren, wenn er diesem Monster nicht zur Seite stand? Würde es sie einfach umbringen oder noch viel schlimmere Dinge mit ihr machen?
Sebastian schauderte es alleine bei der Vorstellung, was dieses Biest bereit war zu tun. Er konnte es nur sehr schlecht einschätzten. Zu verschieden waren ihr erstes Auftreten und das jetzige Verhalten.
Dennoch freute sich Sebastian, seine Schwester zu sehen. So sehr, dass er unbewusst seine Schritte beschleunigte. Er wollte so schnell wie möglich bei ihr sein und ihr sagen, dass alles wieder gut werden würde. Das war er ihr doch irgendwie schuldig. Denn so wie es aussah, war er der Grund, warum man sie entführt hatte.
Plötzlich ging er einen Schritt zu weit und die Umgebung kühlte spürbar ab. Es geschah alles in Zeitlupe vor seinen Augen. Wie in dem Moment, in dem man sterben müsste. Das Biest drehte sich um, wobei ein dunkles Knurren aus ihrer Brust grollte und seine Zähne waren weit auseinander gerissen. Die Pranken tödlich erhoben, dennoch war das Auge anders. Es passte nicht zu diesem Bild des Angriffs, denn es war erfüllt von Enttäuschung und Trauer.
Sebastians Körper reagierte eher instinktiv, als er versuchte zu flüchten. Doch er war zu langsam, denn die Bestie kam über ihn und begrub ihn unter sich.
Noch im Fall drehte er sich um, damit er sich verteidigen konnte und es war mehr Glück als Können, dass seine Hand beim Aufprall einen Ast ertastete, den er fest umschließen konnte und in die Höhe riss.
Die gewaltigen Kiefer, die eigentlich für seinen Hals bestimmt waren, bohrten sich mit einer enormen Kraft in den erhobenen Stock und drückten weiter dagegen. Sebastian brauchte all seine Energie, um diesem Monster etwas entgegen setzen zu können. Doch er konnte sich anstrengen, wie er wollte. Die Bestie kam näher und näher. Er würde verlieren.
„Ich bin verflucht. Dieser Körper gehört mir nicht mehr. Es tut mir Leid, dass ich dich gleich töten werde“, erklang erneut diese Stimme, die eindeutig der Bestie zu gehören schien, doch sie klang viel zu menschlich dafür.
Geifer tropfte auf Sebastian herab, wodurch er sich angewidert wegdrehte und sich weiter gegen die Bestie stemmte. Er würde verlieren. Wenn jetzt nicht bald ein Wunder geschah, dann war er dazu verdammt hier und jetzt zu sterben.
Zerrissen von diesen Monster. Nutzlos gestorben. Er würde seine Schwester nicht retten können. Das Dorf würde untergehen. Er war zu schwach. Einfach zu schwach.
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