»Hier muss ich Vater wenigstens zugutehalten, dass er sich für ihn eingesetzt hat. Ohne seine Fürsprache wäre Georg längst tot, vergast wie andere Behinderte, oder zwangssterilisiert.«
»Daran mag ich gar nicht denken. – Wie viele Männer wohl im verdammten Krieg gestorben sind? So sinnlos. Jakob hat den Tod ebenso wenig verdient! Manchmal erträume ich mir, dass er irgendwo anders ein neues Leben beginnen durfte! Obwohl, mit dem Schrecken des Krieges im Nacken, ist da ein Tod nicht besser?« Eine einzelne Träne löste sich aus Marias Augenwinkel, folgte der Schwerkraft, tropfte ins Gras.
»Eine gerechte Welt wird es niemals geben.« Andreas blieb an ihrer Seite, als sie dem Wiesenpfad folgten. Das Gras säuberte die matschigen Schuhe. Noch etwa dreihundert Meter hatten sie bis zu ihrem Heimathaus zu bewältigen.
Gerechte Welt? Es schmerzte in Marias Brust, als sie an die Kinder dachte, die häufig mit hungrigen Bäuchen in der Schule saßen. Viele bekamen keine Jause mit, sodass mittags die Suppe oder das Gulasch wie ein Festmahl wirkten. Maria zweigte von daheim mitunter Eier, Gemüse und Salat ab, um es aufzuteilen. Vater durfte das niemals bemerken! Nicht einmal ein Stück Brot hatte er übrig, wenn sich mal ein Bettler auf den Hof verirrte! Seine Hartherzigkeit konnte sie schwer nachvollziehen. Ob er womöglich Angst davor hatte, die Russen würden wiederkommen? Wenn die Soldaten damals im Krieg die Höhle gefunden hätten, in der sie Schweine und Hühner verborgen hielten, wäre das für die gesamte Familie ein Todesurteil gewesen! Maria schielte zu ihrem Bruder. Andreas hatte als Junge, bei seinen Streifzügen durch den Wald, die Höhle aufgespürt und Vater als Versteck vorgeschlagen.
»Es ist eine schwierige Zeit.« Andreas wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Zukunft ist ungewiss. Wir befinden uns im Aufbau, die Wirtschaft soll angekurbelt werden. Mit was, frage ich mich. Zwar haben wir wieder den Schilling, aber man munkelt darüber, dass uns eine weitere Geldentwertung bevorsteht.« Er war bei seinem Lieblingsthema angelangt: Politik.
»Wir können das nicht ändern.«
»Das will ich nicht glauben! Nie mehr will ich einen Krieg miterleben! Die anderen dürfen nicht so über unsere Köpfe hinweg entscheiden. Wir sind die Generation von morgen! Schau dich um. Gleich dort drüben ist der Bombenkrater zu sehen, auch wenn inzwischen Gras darüber wuchert! Im Ort sind viele Häuser zerstört. Dachstühle, Fassaden, Fenster – da gibt es genug zu richten. Es scheitert nicht an der Arbeit, sondern an der Bezahlung, dem fehlenden Material und den Maschinen!«
»Wir haben eine funktionierende Dorfgemeinschaft, das ist besser als nichts. Viele helfen sich gegenseitig, tauschen, was sie grad entbehren können. Wie man hört, haben wir es im Vergleich zu den Städten gut.«
Unwillig presste Andreas die Lippen aufeinander. »Du siehst immer alles zu positiv.«
»Nein, du bist zu pessimistisch. Warum kannst du nicht dankbar sein? Wir leben.«
»Und Jakob ist tot.«
Maria überkreuzte die Finger oberhalb ihres Herzens. »Gott möge mit ihm sein. – Weißt du noch, wie wir auf seinem Schoß sitzen durften. Tausend Nachtgeschichten hat er uns erzählt, oder mehr. Wenn wir Albträume hatten, kam er, um uns zu trösten.«
Andreas ergriff die Hand seiner Schwester. »Wie könnt ich das vergessen. Acht Lebensjahre haben uns getrennt. Du warst seine Prinzessin und ich der kleine Prinz.«
Ein dumpfer Schmerz loderte in Marias Brust. Sie erinnerte sich daran, als Jakob sich verabschiedete, um in den Krieg zu ziehen. Maria hatte sich an seinem Hemd festgekrallt, wollte ihn nicht gehen lassen! Auch seine Augen schimmerten feucht. Das hatte sie sich nicht eingebildet, obwohl er es vehement abstritt. Nie würde sie vergessen, wie sie getobt, geschrien und geweint hatte! Tagelang. »Was für ein Entsetzen musste er durchstehen? Schmutz, Kälte, Läuse, der Kampf ums nackte Überleben, und dem Gedanken, dass jede Sekunde die letzte sein könnte.«
»Wer ist nun pessimistisch?« Andreas strich zärtlich über das schwarze Haar der Schwester.
Maria hatte Andreas zuvor Unrecht getan, als sie ihn als kalt bezeichnet hatte, denn im Grunde genommen war er sanft und liebevoll. »Wir haben nicht einmal ein Grab, um zu trauern«, sprach sie erstickt.
»Wir haben den Ahorn, den wir für ihn gepflanzt haben.« Andreas deutete zum Baum, den sie fast erreicht hatten. Hoch war er geworden, stark und gerade gewachsen. »Ganz gleich, ob wir draußen sind, oder aus dem Fenster schauen, er steht da. Unablässig können wir beobachten, wie er wächst und sich in den Jahreszeiten verändert. Das ist unsere Gedenkstätte für Jakob.«
Maria wischte sich über die feuchten Wangen. »Du hast recht. Verzeih, ich weiß auch nicht, weshalb ich heute so rührselig bin.«
»Dafür brauchst du dich nicht entschuldigen. Ich vermisse Jakob ebenso. Wir alle mussten Verluste erleiden. Denk an Markus. Die Brüder meines Freundes sind im Gefecht gefallen, und vor einem halben Jahr hat ein Brand das Leben seiner Eltern ausgelöscht und gleichzeitig das Heimathaus zerstört, während er fernab im Holzschlag schuftete. Plünderer haben ihn ins Unglück gestürzt, zu einem Vollwaisen gemacht, alles abgefackelt, wohl aus Frust, weil es nichts zum Holen gab, was sich lohnte. Ich bewundere ihn dafür, dass er sich so tapfer hält.«
»Ja, Markus.«
»Warum sprichst du seinen Namen so seltsam aus?« Andreas musterte die Schwester. Ob er ein bisschen Liebesbote spielen sollte? Die beiden würden gewiss ein hübsches Paar abgeben!
»Tu ich nicht!«, wiegelte Maria ab. Andreas brauchte nicht zu wissen, dass sie auf diese Freundschaft eifersüchtig war! Ständig lief er zu Markus, und verbrachte seine Freizeit bei ihm. Er hatte einen Zufluchtsort, während Dorli kaum mehr Zeit für sie erübrigte. Zuhause wurde es dazu immer unerträglicher. Vater war dauernd gereizt, scheuchte Mutter und sie umher, während er in seinem Sessel neben dem Herd thronte und sich nur erhob, um die Arbeiten zu überwachen. Früher, da hatte er geschuftet! Nun bedauerte er sich selbst, klagte, wie knapp das Geld wäre und wie ungerecht das Leben einem mitspielen konnte! »Wir sollten weiter, ehe die Eltern über unser verspätetes Kommen sauer werden. Bestimmt können sie uns schon aus dem Fenster sehen, und schimpfen, wenn wir so langsam gehen.«
ONKEL ALFONS MIT GESCHENKEN
Schmucklos und schlicht war das elterliche Haus, ein zweigeschossiger Bau aus schwarzgrau verwittertem Holz. Einen Keller gab es nicht. Wenn man näherkam, sah man, dass einiges einer Renovierung bedurfte, wofür das Geld fehlte. Die kleinen Fenster ließen kaum Licht in die Innenräume fallen. Eine Scheibe war gerissen und notdürftig mit Zeitungspapier und Kleister verklebt, sowie mit dickem Stoff verhangen.
Im oberen Stockwerk standen Eimer und Krüge bereit, die bei Regen das Wasser auffingen, das durch die losen Schindeln tropfte. Der angrenzende Stall war dick gemauert, sodass die Tiere – Kühe, Schweine, Pferde, Schafe und Hühner – einen guten Unterstand hatten, der Schutz vor Wind und Wetter bot. Doch beim aufgesetzten Holzteil fehlten Bretter, machten durch die vielen Lücken die Tenne, in der das Futter für das Vieh lagerte, zugig. An das Stallgebäude angebaut, verbarg sich Georgs Unterkunft, eine Holzbaracke.
»Was ist das für ein Auto?« Andreas bemerkte zuerst den Wagen, der vor dem Anwesen abgestellt war. Dunkelblauer Lack glitzerte ihnen entgegen, der durch die Sonne reflektiert wurde. Im Dorf gab es drei Familien und diesen Briten, die sich einen fahrbaren Untersatz leisten konnten. Die kannte er. Aus der Gegend stammte der Wagen nicht!
Maria versuchte, mit den eiligen Schritten des Bruders mitzuhalten. Ob das Walter ist? Hoffentlich bekommen die Eltern keine Probleme, weil ich ihn abgewiesen habe!
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