»Solltest du aber besser«, meinte ihre Mutter. »Irgendwann hast du deine beste Zeit hinter dir und dann ist es zu spät.«
»Mama!«
»Schon gut.« Dagmar seufzte. »Ich sage ja schon nichts mehr. Schließlich hast du noch nie auf das gehört, was ich gesagt habe.«
»Ich hab sehr wohl darauf gehört.«
»Ja, natürlich. Aber nur, um dann das genaue Gegenteil davon zu tun.«
Da ihre Mutter damit nicht unrecht hatte, beschloss Anja, das Thema zu wechseln.
»Bist du morgen Vormittag zu Hause?« Sie hoffte nicht, denn sie wollte ihren Besuch so kurz wie möglich halten, nahm es aber in Kauf.
»Tut mir leid, aber da bin ich in der Druckerei. Wie wäre es, wenn du am Nachmittag vorbeikommst, denn dann bin ich wieder zu Hause.«
»Es wäre mir aber lieber, wenn ich das Notizbuch schon am Vormittag holen könnte«, antwortete Anja. »Wir sehen uns ja ohnehin in den nächsten Tagen zum Kaffeetrinken oder Essen.«
»Ich weiß wirklich nicht, warum du es auf einmal so eilig hast«, sagte ihre Mutter. »Ein Vierteljahrhundert hat kein Mensch einen Blick in dieses Notizbuch geworfen. Bis vor wenigen Minuten wusstest du nicht einmal, dass es überhaupt existiert. Und jetzt kann es dir gar nicht schnell genug gehen, es in die Finger zu bekommen. Was hat das zu bedeuten?«
»In dem Notizbuch stehen Dinge, die Papa wenige Tage oder sogar Stunden vor seinem Tod hineingeschrieben hat. Und bislang hat niemand sie gelesen. Womöglich ist etwas dabei, das neues Licht auf die damaligen Ermittlungen wirft und einen Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen liefert. Wie ich bereits sagte, wurden die Fälle der drei verschwundenen Mädchen niemals aufgeklärt, und sie sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Wenn in dem Notizbuch etwas steht, das außer Papa niemand wusste, sodass er sein Wissen mit ins Grab nahm, und das dazu dienen könnte, die Fälle nach all den Jahren aufzuklären, dann möchte ich das so schnell wie möglich erfahren. Das bin ich nicht nur den drei verschwundenen Mädchen, sondern auch Papa schuldig.«
»Na schön«, gab sich Dagmar schließlich geschlagen. »Komm einfach morgen früh vorbei. Du hast ja einen Schlüssel. Das Notizbuch ist in einem Umzugskarton, der mit dem Vornamen deines Vaters beschriftet ist. Der Karton müsste im Speicher stehen. Allerdings kann ich dir nicht sagen, wo genau. Du wirst also danach suchen müssen. Bring aber bitte nicht alles durcheinander.«
»Ich doch nicht«, sagte Anja, die maßlos erleichtert war und es kaum erwarten konnte, endlich dieses Notizbuch in Händen zu halten. Sie erhoffte sich davon nicht nur einen Durchbruch in den Fällen der drei verschwundenen Mädchen, die vor Jahrzehnten ergebnislos zu den Akten gelegt worden waren. Sondern sie hoffte auch, dass sie durch die Notizen ihres Vaters endlich erfuhr, wen er damals verdächtigt hatte. Schließlich musste sein Mörder einen Grund gehabt haben, ihn zu töten und es wie einen Suizid aussehen zu lassen, sonst wäre er dieses Risiko nicht eingegangen. Und eine drohende Verhaftung war Grund genug, einen Polizisten und sogar den eigenen Bruder zu ermorden. »Du kennst mich doch, Mama.«
»Eben«, erwiderte ihre Mutter humorlos. »Deswegen sage ich es ja.«
Nach dem Telefonat ging Anja zurück in die Küche. Doch kaum war sie dort angekommen, klingelte der Apparat erneut.
Anja stöhnte und eilte zurück in den Flur. Wahrscheinlich war es erneut ihre Mutter, die ihr rasch noch etwas mitteilen wollte, das sie zuvor vergessen hatte.
Hoffentlich hat sie es sich nicht anders überlegt, was Papas Notizbuch angeht.
Ohne einen Blick auf das Display zu werfen, nahm sie den Anruf entgegen.
»Mama?«
Doch es war nicht ihre Mutter, sondern jemand anderes, denn anstelle von Dagmars Stimme antwortete ihr nur Schweigen. Doch es war keine absolute Stille, denn sie konnte jemanden leise atmen hören.
»Hallo?«, fragte Anja, um dem Anrufer eine Chance zu geben, sich endlich zu melden. Wenn es jemand war, der sich verwählt hatte, dann würde er jetzt entweder einfach auflegen oder nachfragen, wer sie war. Doch die Person am anderen Ende der Leitung tat weder das eine noch das andere, sondern schwieg beharrlich und schnaufte leise.
Anja nahm das Telefon vom Ohr und warf einen Blick auf das Display. Doch es wurde keine Nummer angezeigt.
»Was wollen Sie?«, fragte Anja, sobald sie das Gerät wieder ans Ohr gehoben hatte.
Man hätte meinen können, dass es sich um einen obszönen Anruf handelte. Doch Anja ahnte instinktiv, dass es keiner war. Das Atmen klang anders, gleichmäßig und ruhig; nicht wie bei jemandem, der sich an der Furcht seines unbekannten Gesprächspartners aufgeilte. Außerdem musste Anja sofort an den Umschlag denken, den sie an diesem Abend auf ihrer Fußmatte gefunden hatte. Sie ging daher davon aus, dass es einen Zusammenhang zwischen der Nachricht und diesem Anruf gab. Deshalb legte sie auch nicht auf, sondern behielt das Telefon am Ohr und hoffte, dass der Anrufer endlich sprach.
Sie wollte erneut etwas sagen, möglicherweise etwas Provokantes, um ihn aus der Reserve zu locken, da ertönte plötzlich im Hintergrund eine Melodie. Sie kam ihr vage vertraut vor, dennoch war Anja zunächst nicht in der Lage, sie zu identifizieren.
Im nächsten Moment begann der Anrufer, bei des es sich unzweifelhaft um einen Mann handelte, zu singen:
»Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …«
Sobald der Gesang endete, wurde aufgelegt und das Telefonat so abrupt beendet, dass Anja erschrocken zusammenzuckte.
Erst jetzt, im Nachhinein, erkannte Anja das Lied. Es handelte sich um Drafi Deutschers Schlager »Marmor, Stein und Eisen bricht« aus den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Allerdings hatte der Anrufer die erste Textzeile des Lieds etwas abgewandelt. Was er gesungen hatte, klang nun eher wie eine Drohung.
Oder wie eine Ankündigung, dass er zu mir kommen will.
Anja erschauderte unwillkürlich. Sie legte das Telefon auf den Schuhschrank, ging ins Wohnzimmer und sah durch die Terrassentür nach draußen in die Nacht. Erneut fühlte sie sich, als würde jemand sie aus der Dunkelheit heraus beobachten. Sie fragte sich, ob der Anrufer da draußen stand und sie belauerte. Vielleicht behielt er sie schon den ganzen Abend über immer wieder mal im Auge.
Aber was bezweckt er damit? Und was hat er vor?
Anja rief sich die veränderte Liedzeile in Erinnerung:
Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …
Wer war dieser Regenmann, von dem darin die Rede war? Meinte der Anrufer damit sich selbst?
Anja war unschlüssig und wiegte den Kopf hin und her. Entweder sprach der Anrufer von sich selbst, dann handelte es sich um eine eindeutige Drohung. Oder er warnte sie vor jemand anderem, der zu ihr kommen würde.
Sie erinnerte sich an die nassen Fußspuren in Carina Arendts Haus. Es hatte heftig geregnet, als jemand dort eingedrungen und direkt zum Badezimmer marschiert war, um die Bewohnerin niederzustechen und unter Umständen zu töten.
War es also die Tat dieses ominösen Regenmannes?
Anja nickte gedankenverloren. Je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie davon.
Allerdings regnete es inzwischen nicht mehr. War der Regenmann dennoch dort draußen und beobachtete sie? Oder spürte sie die Blicke ihres Widersachers, der die Nachricht vor ihre Tür gelegt und das Foto ihres Vaters an den Spiegel geheftet hatte?
Sie fragte sich unwillkürlich, ob Carina Arendt ebenfalls derartige Anrufe bekommen hatte. Aber das ließ sich leicht überprüfen. Wer immer ab morgen früh für den Fall zuständig war, Anja würde der Kollegin oder dem Kollegen von dem Anruf erzählen.
Allerdings war die Geschichte momentan noch zu verwirrend und widersprüchlich, als das Anja durchschaut hätte, was hinter alldem steckte und wie viele Personen letztendlich darin involviert waren.
Читать дальше