Sie konnten die Bemerkungen der Leute, von wegen „Der braucht mal eins hinter die Ohren!“ schon nicht mehr hören. Denen zu sagen, dass sie sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollten, hatten sie schon lange aufgegeben.
Keiner kam darauf, dass er auf äußere Reize teilweise sehr sensibel reagierte.
Also Augen zu und durch. Kann ja nur besser werden.
In der Kinderkrippe fiel der Junge nicht sonderlich auf, weil Kinder mit zwei, drei Jahren zwar den Kontakt zu ihresgleichen suchen, aber im Normalfall noch nicht gemeinsam spielen, eher nebeneinander.
In dieser Zeit gestalteten sich seine seltenen Kontaktversuche so: Er lief zu den anderen Kindern, sie liefen vor ihm davon. Er hielt es für ein lustiges Spiel. Warum nicht?
Erst als Kai in den Kindergarten wechselte, kristallisierte es sich heraus, dass er Kontakt zu den anderen wollte. Sehr sogar. Entweder war er laut den Betreuern zu unbeholfen oder die Kinder ließen ihn nicht in ihre Nähe.
Er war ein durchaus aufgeweckter und neugieriger Junge, aber im Umgang mit anderen mehr als unsicher. Auf seine Weise eben. Besonders.
Meistens lachten sie über ihn. Er redete kaum. Nicht selten waren es komische Laute. Oder seine Sätze wurden zu komplex. Seine Stimme war meist leise und monoton.
Oder er blieb irgendwo hängen, stieß sich mehr als die anderen Kinder, denn seine Bewegungen schienen unkoordiniert.
Manchmal bewegte er seine Arme blitzschnell, wenn er diese in die Haltung riss, die er eigentlich einnehmen wollte und dabei häufig über sein Ziel hinausschoss.
Es kam auch vor, dass er jemanden erschreckte, wenn er plötzlich neben oder hinter demjenigen stand.
Unterm Strich: Er war den meisten Menschen auf irgendeine Weise unheimlich. Entweder gingen sie ihm aus dem Weg, oder sie fuhren ihn aus heiterem Himmel wegen nichts an.
Bestenfalls wirkte er auf die meisten Menschen schüchtern und in sich gekehrt.
Auch seinen Eltern erging es so. Sie waren deswegen stark im Zwiespalt, denn einerseits liebten sie ihn, es war ihr Kind, andererseits konnten sie ihm keine Nähe geben. Irgendetwas hielt sie zurück.
Zum Teil wünschten sich beide einen Jungen, der sich normal entwickelte, auch wenn es ihnen nur darum ging, ihn auf diese Welt gut vorzubereiten.
Sie puschten ihn, wenn es um Fähigkeiten ging, die er ihrer Ansicht nach, in einem bestimmten Alter haben müsste. Das tat ihm nicht gut, weil er auf irgendeine Art spürte, dass er irgendwie... unzureichend war. Einerseits wollte er vieles alleine rauskriegen, andererseits brauchte er für dies oder das sein eigenes Tempo.
Er klagte mehrmals bei seiner Mutter über Unwohlsein oder diffuse Kopfschmerzen, weswegen er öfter in die Kinderklinik musste. Allerdings fand man dort keine Ursache dafür.
Mit vier Jahren fiel er einmal vom Klettergerüst, wobei er sich den Kopf stieß. Das gab eine ordentliche Gehirnerschütterung, aufgrund derer er zwei Tage im Kinderkrankenhaus verbringen musste.
Danach musste er zu Hause acht Tage lang Bettruhe halten, was ihm sehr schwer fiel, denn ihn zog es aus unerfindlichen Gründen hinaus, in die Natur.
Die allgemeinen Gesundheitsuntersuchungen, welche im Kindergarten jährlich von den Ärzten vorgenommen wurden, ergaben nur, dass er schlecht sah und deswegen eine Brille brauchte.
Dass die anderen Kinder so gar nichts mit ihm anfangen konnten, fand Kai ziemlich doof. Er zog sich mehr und mehr zurück, obgleich es von seiner Seite her Versuche gab, auf die anderen Kinder zuzugehen.
Sie verstanden ihn nicht. Konnten sie auch nicht. Vor allem, wenn der kleine Junge jemanden mit seinen tiefblauen, durchdringenden Augen ansah. Die wenigsten konnten das aushalten. Sie wandten meist den Blick ab, weil ihnen das unangenehm war.
Auch vielen der Erzieherinnen war dieser Junge zum Großteil in einer tiefen Ebene unangenehm. Sie konnten für diese Wahrnehmung genauso wenig, wie er an sich was hätte ändern können. Er verstand das ja nicht. Wie auch?
Weil er mit der Situation irgendwie umgehen musste, lief er oft über die Wiesen oder in Sträuchern herum, wenn er welche fand, um kleine Tiere zu beobachten.
Jedes noch so kleine Fleckchen Grün wurde von ihm genauestens unter die Lupe genommen. Er liebte die Pflanzen, die Tiere und die Natur insgesamt einfach.
Er erfand sogar einen Fantasiefreund. Einen kleinen gehörnten Teufel, von dem er öfter träumte. Vor allem sah er ihn fliegen, irgendwo hochklettern, springen oder rennen.
Der war schwarz, hatte rote Haare und rote Augen und Krallen wie ein Hund oder eine Katze an Händen und Füßen.
Das imaginäre Wesen hatte etwas Wildes an sich. So wie Kai manchmal, vor allem, wenn er doch einmal wütend wurde.
Oft stellte sich der Junge vor, wie es wäre, gemeinsam mit dem für andere unsichtbaren Geschöpf, herumzutoben oder zu lachen.
Er brauchte ja auch wenigstens einen Freund, der ihn verstand. Ganz alleine für sich. Deswegen redete der Kleine viel mit sich selbst, meist in einer eigentümlichen Sprache.
Irgendwann versuchte er den erfundenen Freund zu malen. Er bekam aber nur den Kopf hin, denn menschliche Körper gelangen ihm in dieser Zeit noch nicht.
Er gab ihm auch einen Namen, den er mit den Buchstaben schrieb, die er bereits kannte: Shynn.
Der Dämon hielt immer noch Ausschau nach dem, was ihm fehlte, was Kai repräsentierte oder sein Vorleben, während er sich von dem leuchtenden Gras erhob.
Bei jeder seiner Berührungen oder jedem Druck, den er ausübte, schien es einen kurzen Moment heller zu leuchten.
Als er sich genauer umsah, nahm er auch zugleich seine Umgebung mit Gehör, Geruchssinn und allen erweiterten Möglichkeiten wahr, die er in seiner jetzigen Erscheinungsform hatte. Dabei dachte er sich: Na ja, hier bin ich, ich versteh zwar nicht, was ich schon hier soll, aber was soll ’ s, kann ’ s jetzt nicht ändern.
Er sah auf die lila-violetten Berge, die, je länger er diese betrachtete, sich in Form und Farbe zu verändern schienen. Auf der anderen Seite erblickte er, als eine der wenigen Konstanten dieser Welt, die Wurzeln eines mächtigen Gewächses, dessen Ursprung nicht auszumachen war.
Die Auren, Geräusche und Gerüche verschiedener Pflanzen und tierähnlicher Geschöpfe durchzogen die Luft, die immer in Bewegung zu sein schien und auch in den verschiedensten Farbnuancen schimmerte.
Eine Herde von auf der Erde lange ausgestorbener Paarhufer rannte an ihm vorbei. Rehen in der Gestalt ähnlich, mit gegabelten hornartigen Strukturen auf der Schnauze und einem Paar Hörnern auf der Stirn, sprangen sie in meterhohen Sprüngen von Wurzel zu Wurzel.
Etwas schien sie erschreckt zu haben. Auch wenn dies grundlos war, da an diesem Ort die normalen Gesetze der Natur keine Rolle zu spielen schienen, die Überlebensinstinkte der Tiere waren immer noch vorhanden und ließen sich nicht ausschalten.
Im Hintergrund bewegte sich ein immens großes reptilienartiges Geschöpf stampfend umher, sodass der Boden durch die Erschütterungen erzitterte.
Es war durch die hohen wabernden Bäume kaum auszumachen, bis es auf einmal seine Form veränderte und in Schlangenlinien, Loopings und Kurven davonflog.
„Nichts ist hier wie es scheint“, sagte er zu sich selbst. Mit einem Mal fiel ihm wieder ein, dass er nackt war, auch wenn er sich bisher nicht drum gekümmert hatte, wenn er sich in dieser Form gezeigt hatte. Während er eigentlich bis vor seiner Ankunft in dieser Gegend ein menschliches Wesen war, nahm er sein jetziges Äußeres im vollem Umfang seiner uralten Macht sehr ernst.
Er konzentrierte sich, um sich zumindest ein paar Anziehsachen vorzustellen, weil er sich ohne doch doof vorkam und nicht so edel, wie er es vielleicht gerne wäre.
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