Auf der Empore trat unterdessen unermüdlich ein Redner nach dem anderen auf. Die Erregung schien noch im Wachsen zu sein, obwohl gewiss in dem ganzen weiten Saale nicht einer war, der nicht von ihr bereits ergriffen war, mit Ausnahme jener Reporter vielleicht, die geschäftsmäßig ihre Blätter mit Notizen füllten.
Auban hörte nichts mehr. Einmal hatte er sich halb erhoben, als habe er sich entschlossen, zu sprechen. Aber er hatte gesehen, dass die Reihe der Sprecher noch nicht erschöpft war, und er gab es auf, jenes Wort zu sagen, welches heute Abend nicht gesagt werden sollte. –
Nur einmal noch in der folgenden letzten Stunde schaute er auf. Der Name eines Mannes war genannt worden, den England in die Geschichte seiner Dichtkunst des neunzehnten Jahrhunderts längst neben die glänzendsten unverwischbar eingetragen hatte; den das Kunstgewerbe einen seiner Erneuerer und tätigsten Förderer nannte; und der endlich einer der gründlichsten Kenner und hervorragendsten Vertreter des englischen Sozialismus war. Dieser merkwürdige und einzige Mann – Dichter, Maler und Sozialist in einer Person und Meister in allen – hatte trotz seiner weißen Haare die Lebendigkeit und Frische eines Jünglings. Unvergesslich war noch immer für Auban einer seiner zahllosen Vorträge, die er heute in irgend einem der kleinen Klubsäle der Socialist League-Branchen in London vor Hunderten und morgen in Edinburgh oder Glasgow auf öffentlichen Versammlungen vor Tausenden hielt, geblieben: „The coming society“. Und nie hatte sich vor Aubans Augen verlockender und begehrlich-täuschender das Bild der „freien Gesellschaft“ hingestellt als unter dem Banne dieser Worte, denen der Dichter Zauber und Schönheit, der Künstler Plastik und Fülle und der Denker Beweiskraft und Überzeugung zu leihen suchte. „Wie schön es wäre, wenn es so sein könnte – wie ales aufgelöst wäre in Harmonie und Frieden –“ hatte er damals gedacht.
Ein alter Barde und Patriarch und doch wieder der natürlichste, gesündeste alte Engländer – der Self-made-man – in blauem, hemdlosem Kragen und bequemstem Anzuge stand er da und erzählte mehr, als er sprach, von den Tagen von Chicago.
Der Beifall, mit dem sein Kommen und Abtreten begrüßt wurde, gab Zeugnis von der Popularität dieses Mannes, dessen Lebendigkeit und Tatkraft für die Sache der sozialen Bewegung keine Ermüdung zu kennen schien. – Die zehnte Stunde war lange vor, als der Chairman sich erhob, um mit seiner klaren lauten Stimme die Resolution zu verlesen. Die Hände flogen in die Höhe – keine erhob sich bei der Gegenfrage –: die Resolution war einstimmig angenommen. Ein Kabeltelegramm wurde nach New York gesandt, wo am folgenden Tage aus demselben Anlass ein demonstratives Meeting stattfinden sollte – es brachte die Wünsche der hier Versammelten das Meer...
Dann begann der Saal sich langsam zu leeren. Die lebhaft sprechende, aufgeregte Menge schob sich allmählich durch die Türen ins Freie, die Reporter packten ihre Blätter zusammen, Einzelnes noch miteinander vergleichend, die Tribüne wurde leer. Nur jene Frau, welche zuerst gesprochen hatte, stand noch bei dem Chairman, die Atheistin und Kommunistin neben dem Priester der Kirche und christlich-sozialen Demokraten.
Wahrscheinlich ließ sie sich noch einige Namen und Notizen für ihr kleines, allmonatlich in vierseitiger Stärke erscheinendes Blatt geben. Als Auban jene beiden sah, dachte er, wie innerlich sich ihre Anschauungen berührten und wie es doch nur Scheinwände waren, was sie zwischen sich sahen. Und ferner: wie unvereinbar schroff er selbst gerade dem, was jene verband, gegenüberstand.
Nachdem er sich herzlich von dem alten Herrn, der noch von dem jungen Amerikaner zurückgehalten wurde, verabschiedet hatte, ging er langsam und allein hinaus.
* * *
An der Tür standen noch die Genossen mit ihren Blättern, deren Namen sie riefen.
Auban erkannte einen unter ihnen, welcher der „Autonomie“ angehörte, einen jungen Mann mit blondem Bart und freundlichen Zügen. Er fragte ihn nach Trupp und erhielt die Bestätigung, dass er nicht dagewesen war. – Als er hinaustreten wollte, erhielt er einen Schlag auf die Schulter. Er wandte sich um. Vor ihm stand ein seltsamer alter Mann, dessen Gesicht man wohl nicht mehr vergaß, wenn man es einmal gesehen hatte. Es war alt, eingefallen, durchfurcht und scharf geschnitten, der Mund trat zurück, so dass das unrasierte Kinn hart hervortrat, die Oberlippe war von einem kurzgeschnittenen, struppigen Bart bedeckt, die Augen lagen hinter einer großen Stahlbrille verborgen, aber in Augenblicken der Erregung blitzend und diesem alten Antlitz, welches Kummer und Mühsal verändert hatten, um seine charakteristischen Eigenschaften, ohne sie verwischen zu können, nur schärfer hervortreten zu lassen, noch immer etwas Kühnes verleihend. – Sonst aber schien die Gestalt des Alten gedrückt unter der schwer niederziehenden Wucht einer mächtigen, gefüllten Ledertasche, welche an seiner Seite hing. Um den Hals trug er ein viel geknotetes, buntfarbiges Wolltuch, welches das Hemd verdeckte, und das er auch im heißesten Sommer so wenig ablegte, wie den abgetragenen braunen Mantel.
– Halloh, alter Freund, rief Auban und schüttelte ihm die Hand, – seid Ihr auch da? – Kommt, wir wollen ein Glas trinken.
Der Alte nickte.
– Aber kein Ale, comrade, kein Brandy, nur eine Limonade –
– Seid Ihr denn Temperenzler geworden? fragte Auban lächelnd. Aber der Alte ging bereits voran.
Sie traten in das große Public-House an der nächsten Straßenecke. Die geräumige Privat Privatabteilung am Ende war ziemlich leer, während die übrigen überfüllt waren. Auban erkannte eine Gruppe von englischen Sozialisten, die ebenfalls soeben dem Meeting beigewohnt hatten. Man schüttelte sich die Hände. Dann nahm er dem Alten seine Tasche ab, bestellte, und sie setzten sich auf eine der Bänke.
Es wurde keine Versammlung von Sozialisten in London abgehalten, ohne dass dieser Alte auf ihr zu sehen war. Seit wie langen Jahren? Keiner wusste es. Aber jeder kannte ihn. Der Eine oder der Andere hatte auch wohl schon gelegentlich eine seiner originellen Reden oder Ansprachen gehört und gefragt, wer denn dieser alte, grauhaarige Mann mit den scharfen Zügen sei, der mit so jugendlicher Leidenschaftlichkeit seine wilden Anklagen gegen das Bestehende schleuderte und mit so jugendlicher Wärme sein Ideal der Brüderlichkeit und Gleichheit verteidigte. Dann mochte er die Antwort erhalten haben, es sei ein alter Kolporteur, der seinen Unterhalt durch den Verkauf sozialistischer Broschüren und Zeitschriften verdiene.
Wer er aber wirklich war, wussten nur wenige.
Er erzählte gern, und so hatte er einmal zu Auban gesagt, dass er schon an der Chartistenbewegung teilgenommen; und Auban wusste auch, dass seine Broschüren und Elaborate unter den Millionen Büchern des britischen Museums, dieses einzigen wirklich sozialen Institutes der Welt, genau so sorgfältig gebunden, nummeriert und katalogisiert zu finden waren, wie die seltenste Handschrift vergangener Jahrhunderte.
(Die Chartisten waren eine politische Reformbewegung in Großbritannien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie werden „manchmal als die erste unabhängige Arbeiterbewegung bezeichnet, die sich auf britischem Boden bildete.)
Chartisten-Aufstand
– Nun, was habt Ihr Neues? fragte er, als sie sich gesetzt hatten.
Der Alte zog seine Ledertasche heran und packte aus. Sorglos und unbekümmert um die Umstehenden, streute er seine Zeitschriften und Blätter um sich her, während er für Auban aussuchte, was dieser noch nicht besaß, und mit seiner lauten Stimme seine originellen Urteile den Wert und Unwert des einzelnen abgab.
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