Nach einer kleinen Ewigkeit, die genauso gut nur ein paar Minuten gedauert haben konnte, griff sie planlos nach ihrem Handy. Während sie das Display entsperrte, fiel ihr ein, dass sie einmal gelesen hatte, wie häufig man täglich unbewusst sein Smartphone zur Hand nahm. Die Zahl war erschreckend hoch gewesen, auch wenn sie sich nicht mehr genau erinnern konnte. Egal, unnützes Wissen… Ein Benachrichtigungsfenster informiert sie über eine neue E-Mail, und Johanna stellte mit Erschrecken fest, dass sie eine Antwort vom Lewat-Hof erhalten hatten. Prompt fühlte sie sich noch schlechter. Seit sie ihre Nachricht abgeschickt hatte, fürchtete sie diesen Moment und hatte inständig gehofft, dass er nie eintreten würde. Da wurde sie aus reiner Höflichkeit eingeladen, wenn überhaupt wahrscheinlich auf einen Kaffee, und was machte sie? Fragte quasi, ob sie dort einziehen könnte! Ihr kam es vor, als könnte man ihr ihre Scham über ihre gesamte Existenz ansehen, also schlich sie mit gesenktem Kopf ins Büromateriallager.
Der fensterlose Raum war mit deckenhohen Regalen gepflastert und mit Druckerpapier, Ordnern und ausrangierten Grünpflanzen so vollgestellt, dass man Platzangst bekommen konnte. Da man aber gleichzeitig der häufig bedrückenden Atmosphäre im Büro entkam, war er trotzdem ein beliebter Zufluchtsort, um wieder zu Atem zu kommen. So ging es jetzt auch Johanna, als sie sich hinter einer Pinnwand auf den Boden kauerte. Sobald ihr aber die ungelesene E-Mail wieder einfiel, wurde ihr vor Nervosität fast übel. Aber mehr als eine Absage konnte es ja nicht sein, oder? Höchstens eine mitleidige Absage oder eine belustigte auf Grund ihrer Naivität oder eine Absage verbunden mit dem Rat, einen Therapeuten aufzusuchen… Sie öffnete die Nachricht, als würde sie eine Giftschlange freilassen:
Liebe Janna,
ich habe mich sehr über deine Nachricht gefreut! Ich hatte schon darauf gewartet.
Für Stadtmenschen wohnen wir mitten im Nirgendwo und wir haben viel, auch körperlich schwere Arbeit, nicht zu vergleichen mit geregelten Arbeitszeiten im Büro.
Wenn du trotzdem kommen möchtest, kannst du so lange bleiben, wie du möchtest. Kost und Logis sind frei.
Schreib‘ mir einfach, wann du ankommst!
Liebe Grüße,
Evi
Eine vergessene Pinnnadel bohrte sich in ihren Rücken, aber Johanna merkte es kaum. Sie las den kurzen Test noch einmal. Die Nachricht war so klar und selbstverständlich, dass man sie gar nicht missverstehen konnte. Zuerst war sie überrascht, dann empfand sie so etwas wie Freude, dann war ihr plötzlich alles zu viel. Sie stürmte aus dem Lagerraum, raffte ihre Sachen zusammen und ging. Nana sah sie fragend an und Johanna stammelte nur, dass es ihr nicht gut ginge und sie nach Hause müsste. „Sagst du Hajo bitte, dass ich mich krankgemeldet habe?“, bat sie ihre Kollegin, ohne stehen zu bleiben.
„Äh...ja, mach‘ ich“, rief Nana ihr hinterher. „Gute Besserung!“ Johanna war ihre Besorgnis unangenehm, denn sie war ja gar nicht wirklich krank. Sie musste nur hier raus!
Trotzdem fühlte sie sich auf dem Heimweg so elend wie noch nie. Sie saß wie immer in der U2 und es roch wie immer muffig. Irgendwo schrie ein Baby und ein anderer Fahrgast beschwerte sich lautstark. Wie immer. Nur kam Johanna auf einmal alles fremd vor. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Die mechanische Frauenstimme kündigte den nächsten Halt an und fügte hinzu: „Ausstieg links.“ Mit zittrigen Fingern griff sie nach ihrem Notizbuch, um sich daran festzuhalten, aber plötzlich waren die Worte wieder da, die ihr in den letzten Monaten gefehlt hatten:
Ausstieg links! Und ich stehe auf der rechten Seite, zerre an der Tür und komme nicht raus…
„Was ist passiert?“, fragte Linea sofort, als Johanna mitten am Tag nach Hause kam.
„Nichts, mir ging es nur nicht so gut.“ Johanna versuchte sich an ihrer Freundin vorbei in ihr Zimmer zu drängeln.
„Bist du krank?“
„Nein, ich musste da nur raus…Hajo…Mareck…ich…“. Ihre Stimme versagte und schon wieder kamen ihr die Tränen.
„Ach, Süße!“ Linea umarmte sie. „Aber du bist trotzdem krank! Du hast Fieber!“
Sie hatte Fieber. Denn sie war krank. Das wurde Johanna schlagartig klar, als sie die Augen öffnete. Sie versuchte sich zu orientieren und stellte fest, dass sie in ihrem Bett lag. Wie genau sie dort hingekommen war, konnte sie nicht sagen. Sie wusste nur, dass ihre Arme und Beine schmerzten, ihr Kopf zu platzen drohte und kalter Schweiß auf ihrer Stirn stand. Draußen vor dem Fenster war es dunkel. Wie spät war es denn schon? Sie setzte sich so ruckartig auf, dass ihr schwarz vor Augen wurde und sie sich wieder in die Kissen fallen ließ.
Durch ihr Gepolter angelockt steckte Linea den Kopf durch die Tür und fragte: „Hey, du bist ja wieder wach. Wie geht’s dir?“
„Ich weiß nicht…“ Johanna verzog das Gesicht, denn das Sprechen verursachte Halsschmerzen. Dann fiel ihr etwas ein, dass sie wieder hochfahren ließ. „Ich muss zu Moritz!“ Zum Glück war Linea bei ihr, bevor sie aus dem Bett kippte. Fürsorglich stopfte sie Kissen zurecht und lehnte Johanna dagegen wie eine lebensgroße Puppe.
„Du musst nirgendwo hin!“, bestimmte ihre Freundin.
„Aber ich hab‘ es ihm versprochen“, krächzte Johanna verzweifelt. „Ich muss ihn wenigstens anrufen!“
„Ich mach‘ das. Er soll herkommen und sich um dich kümmern.“ Linea verließ den Raum und fügte beim Gehen hinzu: „Aber nicht, dass du denkst, dass ich das nicht gerne mache. Ich bin bestimmt eine gute Krankenschwester!“ Damit entlockte sie Johanna ein schwaches Lächeln, bevor diese dankbar die Augen wieder schloss. Nach einer Weile kam Linea zurück und verkündete: „Er kommt nicht. Er will dich nicht stören…“
„Aber das ist doch lieb von ihm“, versuchte Johanna ihren Freund mal wieder zu verteidigen.
„Pah! Eine kranke Freundin passt nicht in sein Weltbild, so sieht’s aus“, ereiferte sich Linea. Johanna wollte ihr widersprechen, aber zum einen fehlte ihr die Kraft dazu und zum anderen wusste sie, dass ihre beste Freundin Recht hatte.
Am nächsten Tag schleppte Linea sie zum Arzt, der wenig überraschend einen heftigen grippalen Infekt diagnostizierte. Er schrieb sie gleich zwei Wochen krank, was bei Johanna eine fast überwältigende Erleichterung auslöste. Das anhaltende Fieber verhinderte zudem, dass sie zu viel über ihren unrühmlichen Abgang im Büro nachdenken konnte. Sie schlief viel und sogar ihre Träume waren seltsam formlos, nichts als schemenhafte Konturen, wilde Farben und Emotionen, die sie nicht fassen konnte. Wenn sie mal wach war, unterhielten Linea und ihre Mutter sie, die zudem bei jedem Besuch reichlich Hühnersuppe mitbrachte (auf die Johanna leider wenig Appetit hatte). Ansonsten lenkten seichte Soaps sie ab, die sie bestimmt schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Dieser dumpfe Zustand wäre durchaus nicht unangenehm gewesen, wären da nicht die andauernden Kopf- und Gliederschmerzen gewesen. Aber solange ihr alles wehtat, hatte sie wenigstens einen greifbaren Grund sich elend zu fühlen.
Moritz meldete sich überhaupt nicht, was Linea nur mit vernichtenden Blicken quittierte. Johanna, die ja eigentlich wütend oder traurig darüber hätte sein müssen, war es erstaunlich egal. Als sie am Ende der ersten Woche wieder dazu in der Lage war, wählte sie trotzdem seine Nummer.
„Hanni-Bunny! Alles wieder fit?“, fragte ihr Freund gutgelaunt.
„Es wird langsam.“
„Cool! Hör’ mal, Schnuffi, wir treffen uns heute mit ein paar Leuten bei Jan. Komm‘ doch auch!“
„Du, Moritz, ich liege seit einer Woche krank im Bett, habe gerade mal kein Fieber mehr und bin noch total erledigt. Ich kann heute noch nicht wieder auf eine Party gehen“, erwiderte Johanna entschuldigend. Gleichzeitig merkte sie, wie irgendwo unter dem tauben Krankheitsgefühl Wut in ihr hochkochte. Sie ignorierte sie und fügte schnell hinzu: „Du kannst doch heute Abend zu mir kommen. Ich bin bestimmt nicht mehr ansteckend und ich würde mich echt freuen!“
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