Frank Landweil musste noch einige Zeit auf dem Bahnsteig warten, bis Monique mit einer entschuldigenden Handgeste aus dem Zug stieg und auf ihn zukam. Ohne ihre strenge Kontrolleur-Uniform gefiel sie ihm noch besser, wobei er einen anderen Kleidungsstil erwartet hätte. Sie trug eine weit ausgeschnittene Stoffhose, auf der sich verspielte Paisleymuster ihren Weg bahnten. Ihr Oberteil würde er in die Kategorie eines langärmligen T-Shirts einordnen, vielleicht etwas besser geschnitten, aber doch sehr locker. Das Bild der beiden war selbst für die modebewussteren Mailänder schwierig einzuordnen. Da stand ein Mann in den Dreißigern in adrettem Stil neben einer Mittzwanzigerin, zumindest vermutete er das, die geradewegs von einem Independent-Musikfestival hätte kommen können. Die entgegenströmenden Personen musterten zunächst Landweil, bevor sie mit leicht aufgerissenen Augen Monique ansahen. Da verspürte er das Bedürfnis, sie an die Hand zu nehmen und den Leuten zu signalisieren, dass sie ihm gefällt, wie sie ist, unterließ es jedoch. Es war auch nicht von Nöten, im Gegenteil. Monique fühlte sich augenscheinlich sehr wohl in ihrer Kleidung und warf den irritierten Gesichtern ein selbstbewusstes Lächeln entgegen, was ihr wiederum einige verschmitzte Blicke einbrachte.
„Woher wusstest Du, dass ich nicht Maximilian heiße?“, fragte Landweil als sie geradewegs Richtung Taxistand liefen.
„Das war leicht. Man merkt es Menschen an, wenn sie einen anderen Namen angeben. Es ist, als ob sie den Namen rufen würden, sie verbinden ihn nicht mit sich selbst. Das war bei Dir eindeutig der Fall. Außerdem hast Du im Schlaf geredet, bevor ich Dich geweckt habe. Du sagtest ‚Frank Landweil, mitreißender Mittdreißiger, wenn Sie gestatten‘“, entgegnete Monique und konnte nicht widerstehen, sein Zitat ein wenig prustend von sich zu geben.
Landweil wurde rot. Auch wenn er im Schlaf keinen Einfluss darauf hatte, was er von sich gab, so war es ihm doch unangenehm. Den Satz hatte er schon länger im Kopf gehabt und wollte ihn bei einer Frau ausprobieren, hatte sich bisher aber nie getraut. Und jetzt war er ihm im Schlaf über die Lippen gegangen. Sein fragiles Gedankengebäude, das nunmehr schon mehrere Stunden hielt, drohte wieder ins Wanken zu geraten. Die Souveränität war verloren. Da kamen sie bei den Taxen an.
Mit seinen spärlichen Italienischkenntnissen erklärte Landweil dem Taxifahrer, dass sie nicht viel Zeit hätten und in die Via Montenapoleone möchten. Dankbarerweise verstand er ihn sofort und prügelte seinen alten Lancia durch die Gassen, als müssten sie nicht von einem Ort zum anderen, sondern dazwischen auch noch ein paar Verfolger abschütteln. Als sie ankamen, bat Landweil den Taxifahrer gegen Bezahlung zu warten. Dieser strahlte ihn mit einem mit wenigen Zähnen ausgestatteten Grinsen an und kramte Tabak und Zigarettenpapiere aus seiner Tasche und lehnte sich an seinen Wagen.
Die Zeit raste nur so dahin. Wie in einem Trancezustand erlebte Landweil den Kleiderkauf. Monique wusste sofort, was sie wollte. Sie wählte ein Kleid in einem helleren Blau, sie nannte es „Lichtblau“, das sommerlich, aber elegant aussah. Frank Landweil bezahlte, sie bedankte sich, ohne dabei unterwürfig zu sein und sie fuhren zurück zum Bahnhof. Diesmal mit weniger Druck auf dem Gaspedal und, wenn er sich nicht irrte, auch nicht auf dem schnellsten Weg.
Seine neue Bekanntschaft war keineswegs eine Frau, die man sich einfach kaufen konnte. Sie sprachen kaum miteinander, ab und an fiel eine Floskel über Mailand, dann war wieder Stille.
Sie hatten kaum zehn Minuten Zeit, als sie am Bahnhof eintrafen und Landweil kaufte sich ein Ticket geradewegs Richtung Frankfurt, Monique fuhr ohnehin umsonst, zumindest versuchte sie gar nicht erst, ein Ticket zu kaufen. Die Ereignisse des Tages hatten ihn müde werden lassen und er passte gerade noch den Moment ab, als ein Kontrolleur seinen Fahrschein sehen wollte. Es war natürlich nicht Monique, er hatte sie nicht mehr gesehen, seitdem sie am Bahnhof angekommen waren und er den Ticketschalter angesteuert hatte. Bevor er sich weitere Gedanken darüber machte, schlief er ein und seinen Geist eroberten wieder surrealistische Träume. Er lief durch eine tiefe Häuserschlucht und konnte seine Augen wieder nicht richtig öffnen. Hinter sich hörte er eine unruhige Menschenmenge, aber irgendetwas hinderte ihn daran, sich umzudrehen. An einer Kreuzung saß ein Mann auf einer roten Kuh und schüttelte den Kopf, als er ihn erblickte. Als er aus dem Schlaf hochschreckte, war es bereits dunkel draußen. Mailand, ein paar Stunden.
Glücklicherweise gab es einen Bäcker an der nächsten Ecke und der Erwerb der Brötchen und Croissants nahm nicht allzu viel Zeit in Anspruch. Als er die Tür wieder aufschloss, saß sein Überraschungsübernachtungsgast schon am Tisch und hatte sich nützlich gemacht. Er bereitete zwei Café zu und stellte noch ganz unprätentiös eine Karaffe Leitungswasser dazu. Es hatte schon seinen Grund, dass Elania bei ihm übernachtete. Es lag weniger an ihm, als an Urs Gärtner, mit dem sich seine Nachbarin gestern bestens amüsiert hatte und der ihrer ziemlich besten Freundin die versprochene Betthälfte nicht mehr anbieten konnte oder besser wollte.
Elania war, wie sollte es auch anders sein, nicht Elania, sondern Rebecca von Siebenreif, ein adliger Name mit gesundem wirtschaftlichem und familiärem Hintergrund. Der Tarnname war unter den Freundinnen bekannt und so war es kein Wunder, dass seine Nachbarin Judith so locker mitspielte.
Da er seine schnelle Abreise vorbereiten musste, erzählte er ihr in Kurzform, womit er aktuell sein Geld verdiente und dass er sich nun um eine Zugverbindung kümmern müsste. Sie bot sich postwendend als Praktikantin ohne Verdienst an, um die Gelegenheit zu erhalten, einem guten Koch über die Schulter zu schauen und, das dachte sie sich still, Zugang zur Villa Steinfeld in Frankfurt zu erhalten. Für Randolf war das eine echte Win-win-Situation, da er Spesen und Hilfspersonal voll abrechnen konnte und zusätzlich eine attraktive Begleitung hatte, was sich eventuell zusätzlich positiv auf seine Reputation auswirken konnte. Sofern sie nicht zu sehr im Weg stand.
Als der ICE aus dem Bahnhof rollte, hatten sie zwei hektische, aber effiziente Stunden hinter sich: der immer fertige Kochutensilienkoffer plus zweimal kleine Garderobe, kurze Nachricht an die Nachbarin, aus deren Wohnung noch kein Ton zu vernehmen war, und dann per Tram zum Bahnhof. Das ging erfahrungsgemäß am schnellsten. Die nächsten gut vier Stunden boten Zeit, die schnellentschlossene Praktikantin für ihre Rolle als Assistentin zu instruieren. Im echten Leben arbeitete sie in einer Galerie und für Auktionshäuser, mit welchen sie den Traum teilte, eines Tages ein verschwundenes Meisterwerk zu entdecken.
Da Metzger es strikt ablehnte, fertig belegte Baguettes aus einem der immer zahlreicher werdenden Bahnhofsverkaufsständen zu kaufen, versorgten sie sich mit ausreichend gutem Roggenbrot, einem Pfund Sbrinz, Rebeccas Lieblingshartkäse, herrliche Mortadella mit Pistazien, Mayonnaise, den Umständen geschuldet aus der Tube und für den ordentlichen Rahmen eine weiß-rot karierte Tischdecke. Sie hatten noch zwei Plätze am Tisch im Großraum der zweiten Klasse ergattert und fingen schon kurz nach Freiburg an, den Hunger zu stillen.
Die Kontrolleurin, die kurz hinter Basel schon einmal die Karten kontrolliert hatte, blieb nun nochmals stehen und fragte, ob sie neu zugestiegen wären, mit einem anerkennenden Blick ob des für den Großraumwagen nahezu festlich gedeckten Tisch. Lediglich die Plastikwasserflaschen passten nicht ins Bild. Professionell schlug die junge Kontrolleurin mit dem nach anderen Berufsbildern klingenden Vornamen Monique die höffliche Einladung zu kosten aus.
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