„Hallo“, sagte ich.
„Hallo, Herr Professor,“ tönte da eine angenehme Stimme.
„Ja?“ meinte ich vorsichtig, aber schon wieder mit abstrusen Gedanken im Kopf. Wer mochte das sein? Wieder eine Frau, das hatte ich gehört. Aber welche? Und mit welchen Hintergedanken?
„Ich bin Bärbel Runge, eine ehemalige Studentin von Ihnen.“
„Aha!“ sagte ich irritiert. Dachte da wirklich eine ehemalige Studentin an mich? Was wollte sie von mir?
„Es geht um Ihre Methode! Ich will über Vor- und Nachteile von Inszenierungspraktiken promovieren. Angefangen bei Ekhof bis zu Stanislawski und Brecht. Vielleicht auch aus jüngerer Geschichte, Langhoff, Stein oder Müller. Ich weiß noch nicht. Ihre Ansichten wären mir sehr wichtig.“
„Kompliment!“ musste ich da erst einmal feststellen, „da haben Sie sich ja eine heroische Aufgabe gestellt.“
„Danke!“ meinte sie und knüpfte an, „ja, ich bin nämlich zur Wissenschaft abgewandert, aber vom Schauspielen nicht losgekommen.“
„Wenn ich Ihnen helfen kann.“
„Das könnten Sie. Ich habe bisher gefunden, dass Ihre Auffassung, wie mir scheint, am brauchbarsten für ein originäres Theaterspiel ist.“
„Danke!“ sagte ich.
„Aber ich habe natürlich Fragen. Ob ich das eine oder andere richtig verstanden habe, ob ich nicht Dinge hinein interpretiere, die Ihrer Theorie widersprechen würden.“
„So schlimm wird es nicht sein,“ meinte ich. Die Praktiker kümmern sich ohnehin nicht darum, wollte ich hinzufügen, unterließ es aber, um ihr nicht Mut und Elan zu nehmen. Meine Erfahrung war, dass selbst an Schulen nicht nach einer allgemein gültigen, weil richtigen Methode ausgebildet wird, sondern an jeder Schule der jeweilige Guru herrscht, und zwar mit seinen mehr oder weniger gut funktionierenden subjektiven, wenn nicht gar subjektivistischen Ansichten und Praktiken.
„Ja, wäre schön!“ antwortete Frau Runge und fügte hinzu, „es wäre wunderbar und würde meiner Arbeit voran helfen, wenn ich mich einmal mit Ihnen unterhalten könnnte. Ich bitte darum.“
Einen Damenbesuch konnte ich im Moment wahrhaftig nicht gebrauchen. Andererseits wäre er wahrscheinlich eine wohltuende Abwechslung. Obendrein zu einem Thema, das mir natürlich nach wie vor am Herzen lag. Ich zögerte mit der Antwort.
„Sind Sie noch da?“ hörte ich.
„Ja“, sagte ich, „ich überlege nur gerade, wie ich Sie in meinem Terminplan unterbringen könnte.“ Das war zwar gelogen; denn ich hatte so gut wie keine Termine, verschaffte mir aber Gelegenheit, die ganze Sache flux noch einmal abzuwägen. Und ich kam zu dem Schluß, mich auf ein Gespräch einzulassen.
„Ich kann mich ganz nach Ihnen richten,“ reagierte sie, „ich wohne zwar in München, bin jetzt aber in Berlin. Und Sie wohnen ja wohl irgendwo am Rande im Speckgürtel.“
Das war nun freilich eine verdächtige Anmerkung. Die Frau hatte offenbar Erkundungen angestellt. Interessierte sie sich gar nicht für Theorie, sondern für Praxis, und zwar für persönliche Annäherung? Ich spürte zwar sofort, dass ich schon wieder einigermaßen irre spekulierte, aber der Verdacht war aufgekommen, und so schnell ließ er sich auch nicht wieder ausräumen. Schließlich war irgendwelche profane irdische Annäherung immer noch wahrscheinlicher als ein Flirt mit dem Jenseits.
„Machen Sie einen Vorschlag,“ forderte ich Sie auf, „am besten vielleicht an einem frühen Nachmittag.“
Nach einem kurzen Hin und Her einigten wir uns auf einen Termin. Ich grüßte noch einmal, versprach neugierige Erwartung und legte auf. Was hatte ich mir da eingebrockt? Eine Studentin Runge war mir nur sehr schwach in Erinnerung. Sie war durchweg unauffällig geblieben, hatte weder verquere noch produktive Diskussionen provoziert. Und als Schauspielerin würde sie, das war schon während des Studiums abzusehen, zum Fußvolk gehören, zu jenen nötigen Unentwegten, die Tag für Tag auf der Bühne rackern und nur selten wirklich Anerkennung erfahren.
Zwangsläufig verbrachte ich von Stund an wieder höchst unruhige Tage. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass die Münchnerin etwas mit der Anruferin zu tun haben könnte, äußerst gering war, litt ich unter der Ungewissheit. Die plötzlich und unerwartet noch einmal geradezu unheimlich eskalierte.
Ausgerechnet an dem Tag, an dem das Gespräch mit der ehemaligen Studentin stattfinden sollte, stieß ich beim morgendlichen Zeitungslesen auf eine Notiz, die mir von jetzt auf gleich allen Boden unter den Füßen wegzog. An diskreter Stelle wurde dort mit wenigen Zeilen berichtet, dass man eine Frau aus dem sächsischen Kuhschnappel ins Krankenhaus gebracht habe, weil sie immer wieder behauptet habe, von ihrem Mann aus dem Jenseits angerufen worden zu sein. Der Arzt habe schließlich keine andere Entscheidung treffen können, da die Frau hartnäckig bei ihrer Behauptung geblieben sei. Ganz offensichtlich hatte ein einfaches Gemüt die nervliche Belastung nicht aushalten können und hatte sich einer Nachbarin anvertraut. Und die wiederum hatten keine andere Wahl gehabt, als den Arzt zu rufen. Denn Anrufe aus dem Jenseits, die konnte es einfach nicht geben.
Für mich aber stand seit diesem Morgen fest, dass es tatsächlich Anrufe gab. Vermutlich sogar viel mehr, als bislang öffentlich benannt. Unter Umständen wurde von den Behörden sogar alles unternommen, um Informationen über die mysteriösen Vorgänge nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Denn die Obrigkeit hatten letztlich kein Mittel, die Verbreitung der Kunde zu verhindern, noch gar den Kontakt mit dem Jenseits zu unterbinden.
Nach dieser ungeheuerlichen Information schien mir mein weiterer Umgang mit der Anruferin auf einmal ziemlich klar. Es blieb mir nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich nahm mir vor, beim nächsten Telefonat zwar meine Fragen noch zu stellen, sozusagen in einem letzten Gefecht, ansonsten aber möglichst gesund und aufnahmefähig auf die zweifellos historische Herausforderung einzugehen.
Mich überkam überraschend eine erwartungsvolle Zufriedenheit. Zweifel daran, dass die Zeitungsmeldung ein Art Aprilscherz gewesen sein könnte oder eine Fake-News, kamen mir nicht. Im Gegenteil, ich fand es auf einmal positiv aufregend, offenbar zu den Auserwählten zu gehören, zu denen das Jenseits Kontakt aufnahm. Wahrscheinlich war von dort so etwas wie eine ideologische Offensive gestartet worden. Die Errrungenschaften modernster Technik machten es möglich.
Ich war mithin am Tage des Gespräches mit Frau Runge äußerst unkonzentriert. Eigentlich hätte ich ihr absagen müssen, denn ich hatte wirklich ganz andere Dinge im Kopf, musste und wollte meine Sicht aufs Jenseits und jene Frau, die meine Frau sein wollte, neu sortieren. So plante ich ein möglichst kurzes Gespräch mit Frau Runge; ging daher auch nicht zum Bäcker, sondern stellte demonstrativ nur zwei Gläser und eine Flasche Stilles Wasser auf den Tisch. Das Wetter war leidlich, die Temperatur im Rahmen – Gemütlichkeit würde nicht aufkommen. Und wenn, müsste ich dagegen steuern.
Frau Runge, stellte ich sofort fest, war eine schöne Frau! So auffallend attraktiv hatte ich sie gar nicht in Erinnerung. Als ich ihr mein Gartentor öffnete, überkam mich sofort eine stille Sehnsucht. Ich hatte mein Leben lang immer wieder überrascht registriert, dass mein Wahrnehmungssystem in Sachen Weiblichkeit von aufregender Sensibilität war. Es konnte mir widerfahren, dass ich auf der Straße eine Frau sah und sofort erotische Regungen hatte, ein Verlangen und Begehren, das lästig sein konnte, weil es stets Wünsche provozierte, die nicht erfüllbar waren. Mit dem Alter war dieser erotische Mechanismus gewissermaßen eingerostet, aber jetzt schien er wieder mobil zu sein und drängte erst einmal alle übrige Welt in den Hintergrund.
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