Einsam, verlassen und mit schlechtem Gewissen stand sie dort mitten in dieser anderen Welt und überlegte verzweifelt, was nun geschehen sollte. Einerseits hätte sie am liebsten alles hinter sich gelassen und wäre davongelaufen, andererseits hatte Samael etwas Seltsames in ihr ausgelöst, was es war, konnte sie noch nicht sagen.
Man hatte ihr ein kleines, schmuckloses Zimmer als erste Übernachtungsmöglichkeit angeboten. Ilena lag hellwach und starrte auf die Holzbalken der Decke, als könnte sie diesen eine Antwort entlocken. Was vermochte ein schwaches Mädchen wie sie schon auszurichten? Dieser Gedanke plagte sie Stunden, bis sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel. Hektisch wälzte Ilena sich von einer Seite zur anderen und versuchte so, den Traum abzuschütteln. Jedoch ohne Erfolg. Als gerade jemand mit einer Axt nach ihr warf, schrak sie auf und saß kerzengerade und nach Luft schnappend in ihrem neuen Bett. Ihr Atem ging schwer, und ihre Haare klebten schweißnass an ihrem Kopf. Nein, hier kann ich nicht länger bleiben! Entschlossen stand Ilena auf und trat vor die Tür. Kalte Nachtluft umwaberte ihren Körper und trug sie durch das Dorf. Nirgendwo brannte Licht, keine Menschenseele befand sich um diese Zeit draußen in der finsteren Nacht. Ilena schlich auf nackten Füßen über die mit groben Steinen gepflasterte Straße. Gleich hatte sie ihr Ziel erreicht, das Portal, mit dem sie in die Stadt hineingelangt war. Mitten auf der Straße blieb sie stehen und sah sich prüfend um. Hier muss es gewesen sein, dachte sie und hielt Ausschau nach etwas, was irgendwie auf ein verstecktes Portal hinweisen könnte, doch vergebens.
Aus einer schmalen Seitenstraße neben ihr hörte sie plötzlich wie messerscharfe Krallen über die unebenen Pflastersteine kratzten. Ilena wirbelte herum. In der Dunkelheit konnte sie nur schattenhafte Umrisse eines riesigen Wesens ausmachen, das mit gesenktem Kopf auf sie zu schlich. Bedrohlich klapperte das Ungeheuer mit seinem gekrümmten Schnabel und blies grollend heißen Atem aus seinen geblähten Nüstern. Reflexartig wich Ilena einen Schritt zurück und wäre beinahe über einen Stein gestolpert, der sich im sandigen Boden gelockert hatte. Nackte Angst stieg in ihr auf. Wenn sie sich jetzt nicht rührte war sie dem Tode geweiht. Panisch drehte sie sich um und rannte in dieselbe Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Mit großen, stampfenden Sprüngen folgte ihr das vogelartige Untier. Den heißen Atem schon im Nacken, nahm Ilena all ihre Kräfte zusammen und spurtete los. Sie hatte gerade die nächste Biege erreicht, als sich ihr Fuß in einer herausragenden Wurzel verhing und sie kopfüber auf den Boden zwischen zwei Büschen stürzte. Auf allen Vieren drehte sie sich blitzschnell um und sah den riesigen Schnabel des Tieres über ihr aufblitzen.
Das Vieh bäumte sich auf und schnellte herab. Es war vorbei! Wäre ich doch nur in meinem Zimmer geblieben! Oder besser: Wäre ich doch lieber gar nicht erst hierhergekommen. Vor Todesangst zitternd rollte sie sich auf die Seite. In diesem Moment vernahm sie ein Reißen und befürchtete, das Monster hätte sie schon zerfetzt, jedoch verspürte sie keinerlei Schmerz. Angespannt fühlte sie in sich hinein. Nicht einmal ein Haar hatte es ihr gekrümmt. Aber woher kam dann das Geräusch? Ihre Nüstern blähten sich auf und sie roch Unentschlossenheit. Ihre scharfsinnigen Ohren vernahmen das Schnauben genau über ihr. Ihre Nackenhaare sträubten sich, und sie spürte jede kleinste Bewegung um sich herum. Ihr Kopf schnellte hoch und sie blickte in das verzerrte Antlitz ihres Verfolgers.
Sie rannte. Jedoch nicht auf zwei Beinen wie gerade eben noch, sondern auf allen Vieren. Es war ihr, als würde sie die Straßen entlangfliegen. Das Monster hinterher. Neuer Lebensmut hatte sie gepackt und trieb sie voran. Ein langer Schwanz peitschte hinter ihr her und half ihr, das Gleichgewicht zu bewahren. Direkt vor ihr befand sich ein kleines Haus mit einem Balkon im oberen Stockwerk. Es war naiv von ihr, sich Hoffnungen auf eine Rettung zu machen, aber es gab im Moment keinen besseren Fluchtweg. Mit großen Sätzen jagte sie auf das rettende Haus zu. Sie machte einen letzten Sprung und stemmte sich vom Boden ab.
Während sie flog, setzte das Wesen ebenfalls zum Sprung an. Mit aller Kraft versuchte Ilena, sich an dem dünnen Geländer emporzuziehen. Der glatte Marmor gab ihren scharfen Krallen jedoch keinen Halt. Erst als sie drohte, in das weit aufgerissene Maul des Ungeheuers zu stürzen, griffen zwei Hände nach ihr und zogen sie in die Höhe. Jemand schob sie beschützend hinter sich und versuchte, das wilde Tier mit fremdartigen Worten zu beruhigen. Das Wesen knurrte widerwillig, gab dann jedoch zu ihrem Erstaunen die Verfolgung auf, missmutig dreinblickend und immer noch wutschnaubend. Ihr Retter war niemand anderes als Samael, schon wieder! Und jetzt hatte er sie auch noch beim Weglaufen ertappt. Er trat an das Geländer vor und streichelte dem Untier beschwichtigend den Kopf. Zum letzten Mal schlug es wild mit den massigen Flügeln, dann drehte es sich um und trabte davon.
Jetzt wandte Samael sich wieder ihr zu. Er ging in die Hocke. Seine braunen Augen lächelten sie an, während seine Hand sich ihrem Kopf näherte. Reflexartig sprang sie zurück, fletschte die Zähne und knurrte aus tiefer Kehle. Samael zog sofort seine Hand zurück und sprang auf. Erschrocken ging er ein paar Schritte rückwärts. Bestürzt über ihr Verhalten, hockte sie sich in die am weitesten entfernte Ecke des Balkons und winselte. Samael betrachtete sie skeptisch. »Wenn du willst, kannst du gerne mit hereinkommen, ich hab zwar keine Ahnung, wer du bist, aber bei mir bist du willkommen!« Daraufhin öffnete er die Balkontür und ging ins Zimmer. Was ist jetzt wieder passiert? Fremdartige Instinkte beherrschten ihr Denken. Nach dem gerade Erlebten verspürte sie keine besonders große Lust, die Nacht im Freien zu verbringen, also tappte Ilena vorsichtig durch die gläserne Tür in ein gemütlich eingerichtetes Zimmer. Samael hatte ihr eine Wasserschale auf den Boden gestellt und legte sich wieder auf sein Bett, um in einem ledergebundenen Buch weiterzulesen. Für wen ist denn die Wasserschale bestimmt? Naja, andere Welt, andere Sitten! Üblicherweise esse oder trinke ich ja nicht vom Boden.
Langsam ließ Ilena ihren Blick schweifen. Dieser blieb an einem goldgerahmten Gemälde einer zauberhaft schönen Frau hängen. Sie stand auf einer Wiese, ähnlich der aus Ilenas Träumen. Nein, es war genau dieselbe, verbesserte sie sich. Die Frau wirkte entspannt und fröhlich. Weder Unglück noch Angst waren in ihrem Gesicht zu finden. Ilena riss ihren Blick los und steuerte auf das ihr bereitgestellte Wasser zu. Als sie sich über die Schale beugte, stockte ihr Atem und sie fuhr erschaudernd zurück. Das bin nicht ich! Überall Fell, schwarze Augen, Schnurrhaare! Sie war eine Katze! Vorsichtig beugte sie sich erneut über die Schale. Sie war keine gewöhnliche Hauskatze, das erkannte sie an ihrer Größe. Sie war ein Leopard! So etwas gibt es nicht! Als sie gegen die Schüssel stieß verschwamm ihr Spiegelbild, doch sobald das Wasser sich beruhigt hatte, blickte sie wieder in die dunklen Augen des Leopards, ihre eigenen Augen.
Sie erschrak, als Samael plötzlich neben ihr kniete und langsam eine Hand ausstreckte, um sie zu streicheln. Seine warme Hand fuhr über ihr Fell. Wäre sie jetzt kein Tier, wäre sie knallrot angelaufen, aber diese Eigenschaft besaß sie im Moment zum Glück nicht. »Du bist wirklich wunderschön! Ich wüsste zu gerne, wer du bist...«, überlegte er laut. Dann stand er auf, um ein Stück rohes Fleisch zu holen, welches er auf einen Teller vor sie hinlegte. »Hier, friss das! Du siehst hungrig aus! Das ist das beste Stück, was ich habe.« Mit dem Satz setzte er sich wieder auf sein Bett und beobachtete das scheue Tier neugierig.
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