Urplötzlich verstummte der Kerl und gab seinem Gegenüber ein Zeichen; dieser reagierte sofort und war mit ein paar Schritten bei Ilena. Seine vorgeschnellte Hand wollte sie gerade packen, als ein mit goldenen Ranken verzierter Pfeil seine Brust durchbohrte. In derselben Sekunde schlossen sich große, weißglänzende Flügel um Ilena und das an sie gepresste kleine Mädchen. Nicht einen Wimpernschlag später schossen sie hinauf in die Lüfte. Starke Arme hielten sie beide umschlungen und schützten sie. Schnell entfernten sie sich von ihren Angreifern, die immer mehr verblassten, bis sie nur noch als kleine Punkte auszumachen waren und dann zwischen den Baumkronen verschwanden. Die Luft zischte warm an ihnen vorbei, während sie in einem berauschenden Tempo über Wiesen und Wälder, Flüsse und Seen flogen. Ihre Angst wich langsam einem Gefühl der Freude. Seit sie ein Kind war, wünschte sie sich von Herzen, fliegen zu können. Nur hatte sie diesen Traum schon seit Jahren aufgegeben, nachdem sie auf dem Pferdehof ihres Onkels von der Scheune gesprungen und mit einem gebrochenen Fuß davongekommen war.
Das Geräusch auf- und abschlagender Flügel riss sie aus ihren Gedanken. Höher und höher ging es. Kann es möglich sein, dass… nein! So etwas gibt es nur in der Fantasie, im Traum, in Büchern oder Filmen, doch keinesfalls in Wahrheit! Was geschieht hier mit mir? Ist das eine andere Realität oder habe ich nur wieder einen meiner verwirrenden Träume? Ihr Bauchgefühl widersprach ihr jedoch. Alles wirkte real. Das Kind in ihrem Arm. Eine Mostrana, das klang schön. Die Bedrohung durch die brutalen Jäger und diese affenähnlichen Wesen. Da war es wahrscheinlich, dass diese neue Welt weitere Überraschungen für sie bereithielt. Langsam und darauf bedacht, dass ihr Retter es nicht mitbekam, drehte Ilena ihren Kopf zur Seite und schräg nach oben um ihn genauer anzusehen.
Sie blickte in das makelloseste Gesicht, das sie je gesehen hatte – eine gerade männliche Nase und perfekt geschwungene Lippen. Schwarze Locken flogen wild im Wind. Sein Blick war hingegen starr und konzentriert nach vorne gerichtet. Seine Flügel waren gewaltig und reflektierten seidig das Sonnenlicht. Seine Aura versprühte Sicherheit und Macht. Dann ließ Ilena ihren Blick wieder über das kleine Mädchen schweifen, das sich zufrieden lächelnd an sie kuschelte. Sie strich der Kleinen mit einer Hand über den Kopf, und ihr Blick huschte zu ihrer Retterin auf, sie neugierig musternd.
»Ich bin Ilena! Und wie heißt Du?«, sagte sie mit einem warmen Lächeln. »Anastasia, aber alle nennen mich Ana!« Ihre Augen funkelten fröhlich. Wo war das ängstliche Mädchen von vorhin geblieben? Fühlte sie sich in der Gegenwart des Engels auch so unverletzlich wie sie selbst? Kaum hatte Ilena den Gedanken zu Ende geführt, setzte ihr Retter zum Landeflug an. Es war ein elektrisierendes Gefühl. Eine Achterbahnfahrt konnte man wohl am ehesten damit vergleichen, so, wie sie durch die Luft glitten und schließlich zwischen gewaltigen Bäumen landeten. Der Engel entließ sie aus seiner Umarmung und nahm ihr das Mädchen ab. Ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, sprach er zu Ana: »Das nächste Mal passt du bitte besser auf und entfernst dich nicht so weit vom Dorf! Wäre ich nicht im richtigen Moment aufgetaucht, wärst du jetzt tot und deine Begleiterin«, mit einem Kopfnicken zeigte er in Ilenas Richtung, »wäre eine Gefangene Luzifers und das nur, weil sie dir – im Prinzip – das Leben retten wollte!«
Also wirklich, dachte Ilena, ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt, um Ana zu retten und dann habe ich Anas Leben nur im Prinzip gerettet. Was für ein arroganter, selbstverliebter Typ ist das denn! Okay, er hat uns in letzter Sekunde aus der Patsche geholfen, aber hätte ich nicht den ersten Schritt gemacht und wäre mit Ana geflohen, dann würde es keine Ana mehr geben und auch er wäre zu spät gekommen, verteidigte sie sich innerlich, aber es auszusprechen wagte sie nicht. Sie wusste ja nicht, wozu diese Engel fähig waren.
»Ich wollte niemals, dass irgendjemand sein Leben für mich aufs Spiel setzt! Wirklich! Oh, Ilena es tut mir so leid!«, weinte Ana und wischte mit einer Hand über ihre Augen. »Ach, Ana!«, Ilena drückte das Kind an sich, »Alles ist doch noch gut ausgegangen! Niemandem ist zum Glück etwas passiert.« Die Augen der Kleinen schauten zu ihr auf, und sie presste die Arme noch fester um Ilena. »Ich denke, wir sollten die anderen im Dorf informieren, dass Ana wieder da ist und dass«, er warf einen skeptischen Blick auf Ilena, »eine neue Retterin erschienen ist, um unser Volk zu schützen und zu regieren.« Es sprudelte nur so vor Wut in ihr: »Was denkst du eigentlich, wer du bist, dass du die ganze Zeit so herablassend mit mir reden kannst? Ich habe mir das hier alles auch nicht ausgesucht, wo bin ich überhaupt?« Der Engel erwiderte ihren feurigen Blick mit Gelassenheit. »Also, um deine erste Frage zu beantworten, ich heiße Samael. Und dass dies hier nicht deine Welt ist, wirst du wohl schon bemerkt haben.« Auf Ilenas fragenden Blick hin ergänzte er: »Du bist in Belorah, in einer Zwischenwelt, zwischen Himmel und Erde, die überwiegend Mostrana bewohnen. Also wundere dich hier über nichts.«
»In Belorah? Also ich sehe nur Bäume und Wildnis…«, erwiderte Ilena und blickte ihn spöttisch an, aber er ignorierte sie einfach, drehte sich um und trat zwischen drei hohe Pinien, die ein gleichschenkliges Dreieck bildeten. Ana nahm Ilenas Hand und zog sie ebenfalls hinein. Sobald die drei hineingetreten waren, begannen sich die durch die Baumkronen fallenden Sonnenstrahlen in Windrosen zu wandeln. Lose Blätter, die eben noch zu ihren Füßen lagen, bewegten sich tanzend gen Himmel. Die vielen hell glitzernden Windrosen kreisten geradewegs auf sie zu, bis sie sich schließlich miteinander vereinigten und einen an ihren Gliedern zerrenden, funkelnden Wirbelsturm bildeten. Starke Böen erfassten ihre drei Körper und rissen sie vom Boden. Die Strahlen waren so gleißend hell und schmerzten, dass Ilena ihre Augen zukneifen musste. Kaum konnte sie realisieren, was mit ihr geschah, da hatte sich der wirbelnde Sturm wieder verzogen und sie mitten in ein quirliges Dorfleben hineintransportiert. »Wie… was… «, stotterte Ilena durcheinander und musste sich an Ana festhalten, bis es sich in ihrem Kopf nicht mehr drehte, und ihr Gleichgewicht zurückkam.
»Daran wirst du dich wohl gewöhnen müssen! «, entgegnete ihr Samael kühl, »wir sind durch ein Portal in unser Dorf gelangt. So halten wir es vor den grauen Kriegern, den Wukogi, und ihren Soldaten, den Sluvrak, versteckt. Und bevor du fragst – das Portal lässt nur Lebewesen hindurch, die ein reines Gewissen und ein liebendes Herz haben. Na ja, mich wundert´s etwas, dass es dich hindurchgelassen hat!«, fügte er grinsend hinzu. »Dasselbe könnte man von dir sagen!«, konterte Ilena. »Wie es auch sei, willkommen in Belorah! Es ist mir eine Freude, dich hier begrüßen zu können!«, mischte sich ein weiterer Engel in ihr Gespräch ein, der den Wortwechsel zwischen ihnen gehört zu haben schien. Er machte eine kleine Verbeugung, nahm charmant ihre Hand, hob sie an seine Lippen und hauchte einen sanften Kuss darauf. Ilena sah ihn verblüfft an und machte ihrerseits einen kleinen Knicks zur Begrüßung. »Vielen Dank!«, hauchte sie.
Der Engel lächelte sie kurz an und ließ seinen Blick langsam über ihren Körper gleiten, als würde er ihn begutachten. Ilena tat es ihm gleich und musterte ihn ebenfalls. Seine Kleidung bestand nur aus einer enganliegenden, dunklen Hose und hohen Stiefeln aus Leder. Seinen muskulösen nackten Oberkörper zierte nur der breite Gurt für sein riesiges Schwert, abgesehen von den ausladenden Flügeln auf seinem Rücken. Eher ein Krieger als ein Engel. Aber auch er hatte diese schwarzen, zerzausten Haare und ein ebenmäßiges, wie aus Marmor gehauenes Gesicht, das Ilena beeindruckte. Sein blau blitzender Blick traf sie unvorbereitet. Ertappt schlug sie die Augen nieder, als sie ein Schmunzeln um seine Mundwinkel wahrnahm.
Читать дальше