Langsam aber stetig sinkt in den Sommerwochen der Wasserspiegel und gegen Ende August ist der Stausee fast nur noch eine jämmerliche und trübe Wasserpfütze, selbst Fische können kaum mehr darin überleben.
Zu jeder Stunde wird im Radio verkündet, dass Rasen sprengen und Auto waschen verboten sind, Waschmaschinen sollen nicht mehr als einmal täglich benutzt werden, möglichst nachts, wenn der allgemeine Verbrauch etwas absinkt.
Da meine Eltern wohlhabend sind, konnte ich die besten Schulen besuchen. Ich war nicht das, was man einen Streber nennt, hatte aber in allen Fächern immer nur die Bestnote A. Ich weiß auch nicht wie und warum, aber ich musste nie wirklich richtig pauken, ich habe so etwas wie ein photographisches Gedächtnis und was ich einmal gehört und gesehen habe, verbleibt in meinem Gehirn verankert. Auch jetzt noch, wenn mir etwas nicht spontan einfällt, gebe ich meinem Gehirn den Auftrag danach zu suchen, dies klappt auch meistens und ich bekomme dann auch prompt die richtige Nachricht. Die Hausaufgaben hatte ich schon meistens während der Pause erledigt und hatte somit viel Zeit für mein Hobby.
Unser Wohnhaus war riesig, die Anzahl der Zimmer hatte ich nie wirklich gezählt, es wurden auch nicht alle benutzt, es war ein großes Herrenhaus und stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert, aus Holz gebaut, mit brauner Farbe bestrichen, die alle Jahre ausgebessert werden musste, irgendwo musste immer etwas nachgestrichen werden, und einem großen Eingang. Bis zur Straße waren es etwa fünfhundert Meter. Die gepflasterte Auffahrt, umrandet von Bäumen, führt in einem großen Bogen bis vor dem Eingang und wieder zurück zur Straße, für die Familienautos gab es immer genug Parkstellen. In dieser Gegend sind die Grundstücke nicht eingezäunt, ein Hausschlüssel, wenn je einer existierte, wurde bisher nie benutzt, trotzdem wurde nie etwas gestohlen.
Mein Vater hatte für mich eine kleine Werkstatt eingerichtet, in einem Seitenflügel des Hauses, für meine neue Leidenschaft, die ich nach meiner Rückkehr von unserer Schülerreise entwickelt hatte. Es begann mit einer Studienreise nach Italien, am Ende der zehnten Klasse. Unser Kunstlehrer hatte uns schon einige Monate vor Beginn der Reise auf verschiedene Kunstwerke aufmerksam gemacht, mit dem Schwerpunkt auf Marmor Skulpturen.
Er meinte Florenz und Rom, das waren zwischen Ende des fünfzehnten und dem beginnenden sechszehnten Jahrhundert der Nabel der künstlerischen und kulturellen Welt, was zu dieser Zeit geschaffen wurde, kann man nicht beschreiben, man muss es selbst gesehen haben. Die Hochrenaissance sei die Wiedergeburt der griechischen Kunst gewesen und führte zu nie wieder erreichten Schöpfungen, geschaffen für die Ewigkeit.
Unsere Studienreise begann in Florenz, wir waren in einem kleinen Hotel untergebracht, gleich neben dem Arno, zwei Nebenstraßen hinter der Ponte Vecchio, von meinem Fenster aus konnte ich die Brücke sehen. Am Flughafen in Pisa nahmen wir den Linienbus, und als wir in Florenz ankamen, war es schon dunkel, aber die Brücke überstrahlte die Umgebung, die Geschäfte waren noch geöffnet, ein Wunder dass die Brücke alles tragen kann, besonders bei den vielen Besuchern, die auf dem Scheitelpunkt des Brückenbogens stehen, dort sind keine Geschäfte, zwei kleine Plätze, auf jeder Seite einer, mit freien Ausblick auf den Fluss, danach neigt sich die Brücke nach beiden Seiten bis zu den angrenzenden Straßen. Der Regen der letzten Tage hatte den Fluss leicht anschwellen lassen, nur einige Ruderboote kämpften sich zur späten Stunde noch durch das trübe Wasser, die Liegestühle von der Badestelle an der linken Seite des Flusses waren alle unbesetzt.
Am nächsten Morgen stand ich in der Florentiner Akademie vor ihm, über fünf Meter ist er groß, aus weißen Marmor, der Meister, er war erst fünfundzwanzig Jahre alt, als er ihn aus einem Stein heraus erschaffen hatte. Einige Bildhauer hatten sich schon zuvor damit befasst, aber die Arbeit aufgegeben, und nur grobes Stückwerk hinterlassen. Doch was hatte er daraus gemacht, die Vollkommenheit, ein menschlicher Gigant, von da an konnte ich ihm nicht mehr entkommen.
Er, der ihn erschaffen hatte, er ruht nun für ewig in einem Sarkophag aus braunen Granit, auf einem großen Sockel, an der Wand, am hinteren Ende der Kirche Santa Croce, dort ist er nicht allein, nur einige Schritte von ihm entfernt ruht auch noch der Dichter Dante und gegenüber steht der Sarkophag mit den Überresten von Galileo Galilei, fast wäre er als Ketzer auf dem Scheiterhaufen gelandet, beim Vorzeigen der Folterwerkzeuge hatte er widerrufen, doch dann sagte er nur leise, mehr zu sich selbst, und sie dreht sich doch. Ich stand lange tief bewegt vor ihnen, noch Stunden nachdem ich die Kathedrale verlassen hatte, fühlte ich mich wie aufgewühlt.
Zuvor waren Steine nur einfach Steine für mich, dies hatte sich verändert, als ich vor dem Giganten stand, ich sah, wie dem toten Stein Leben und Würde eingehaucht wurde, und so begann meine Faszination für den Marmor.
Eine der Fragen die ich hatte war, wie ist der Marmor denn eigentlich entstanden?
Unser Lehrer erklärte uns, einst waren es die Schalen von Muscheln und anderen Tieren, die vor mehr als dreihundert Millionen Jahren in den Weltmeeren lebten. Sie hatten sich zum Schutz ein Gehäuse gebaut, aus einer einfachen chemischen Substanz, unser Chemielehrer meinte nur, es sei Calciumcarbonat, wir hätten es auch in unseren Knochen, das würde für die Stabilität unserer Knochen sorgen.
Als die Tiere starben fielen sie auf den Meeresboden, unzählbar viele, die Schalen der Tiere wurden zusammengepresst und durch den hohen Wasserdruck und einigen chemischen Reaktionen entstand der Marmor, weißer Marmor entstand aus weißen Schalen und farbiger wenn die Tiere farbige Schalen produziert hatten, und es gäbe über hundert verschiedene Arten davon.
Eine weitere Frage die ich stellte war, wenn Marmor immer auf dem Boden der Ozeane entstanden ist, wie kommt es dann, dass wir Marmorberge haben.
Der Lehrer meinte, weißt du, zu dieser Zeit gab es nur einen Kontinent, der zerbrach und neue Kontinente entstanden daraus und Teile des Meeresbodens wurden nach oben gedrückt, so entstanden die Marmorberge auf den neuen Kontinenten.
Als ich zurück kam, erzählte ich meinen Vater von meiner Begeisterung, einige Wochen später hielt ein Lastwagen vor unserem Haus, beladen mit vielen Marmorsteinen.
Ich hatte viel geübt, wurde aber nie ein guter Bildhauer, ich hatte aber gelernt wie beschädigte Skulpturen am besten wieder repariert werden können. Maler können Fehler leicht verbessern und neu gestalten, ist eine Nase zu groß oder zu klein, ein Finger nicht in der richtigen Position, so werden sie einfach neu gemalt und neu gestaltet, auch Modelle aus Lehm für Bronze Skulpturen können jederzeit und beliebig oft verändert werden bevor der Bronzeguss entsteht, daher nenne ich die Künstler auch die Kneter. Aber mit den Steinen ist es ganz anders, was einmal weggeschlagen ist, bleibt für immer verschwunden und kann nicht mehr ersetzt werden. Der Bildhauer muss immer genau wissen was er macht, wenn man wieder neues Leben in einen Stein einhauchen will.
Nach der High-School ging ich zunächst an die Universität of California in Berkeley, ich hatte schon im Biologie Unterricht viel von den Viren gehört und mich dafür interessiert. Dort waren einige der bekanntesten Virologen als Forscher tätig, in der Stanly Hall. Das Institut liegt gleich hinter dem Kampanile, mit Blick auf San Francisco und die Golden Gate Bridge, nach einem Jahr wechselte ich zur Harvard University nach Boston mit dem Schwerpunkt Biotechnologie und deren Nutzanwendung, als Nebenfach belegte ich Orientalistik und erlernte orientalische Sprachen. Sowohl in Berkeley als auch in Boston hatte ich Kunstgeschichte und praktische Kurse belegt, ich wurde zwar kein berühmter Bildhauer, hatte mir aber einen Namen als Restaurator und anerkannter Kunstkenner gemacht.
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